Schwere Vorwürfe: Bewohner sollen in Seniorenresidenz verhungert sein – Heimaufsicht wusste wohl Bescheid
24. März 202116:19:39
Schwere Vorwürfe gegen die Seniorenresidenz Schliersee in Bayern. Laut einem Bericht des „BR“ werden Bewohner dort offenbar stark vernachlässigt, manche seien sogar verhungert. Das Unglaubliche: Die zuständige Heimaufsicht soll die verheerenden Zustände ignoriert haben.
Umringt von Bergen liegt die Seniorenresidenz am Schliersee idyllisch am gleichnamigen See. Ein wunderschöner Ort, um seinen Lebensabend zu verbringen, könnten Außenstehende meinen. Doch hinter der Fassade dieser vermeintlichen Idylle verbirgt sich ein wahrer Alptraum.
Wie der „BR“ berichtet, sollen Bewohner der Residenz jahrelang vernachlässigt worden sein. Einige Senioren seien infolge der massiven Pflegemängel sogar an Unterernährung gestorben. Die untragbaren Missstände in der Einrichtung seien bereits seit einem Jahr bekannt gewesen.
Besonders brisant: Die zuständige Heimaufsicht soll Beschwerden teilweise ignoriert haben.
Wegen Corona-Ausbruch musste Bundeswehr in Seniorenresidenz Schliersee anrücken
Dabei ist nur schwer vorstellbar, was die Bewohner der Seniorenresidenz schon an Leid erleben mussten. Erst im Mai 2020 stürzte ein Corona-Ausbruch das ganze Heim in ein riesiges Chaos, da anders als vom Landratsamt empfohlen keine Schutzvorkehrungen getroffen worden waren. Behördenvertreter sprachen von einer „Gefahr für Leib und Leben“.
In der Folge mussten sogar Bundeswehrsoldaten anrücken, um die außer Kontrolle geratene Situation zu bändigen. Vier Menschen, drei Bewohner und eine Pflegerin, waren da schon im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben.
Senioren bekamen püriertes Essen vom Vortag
Das Infektionsgeschehen in der Residenz war aber nur die Spitze des Eisbergs. „Der Corona-Ausbruch ist hier nicht das Problem“, sagt Anke Gemmel, ehemalige freiwillige Helferin in der Residenz, im Gespräch mit „BR“.
Viel verheerender sei die Planlosigkeit und Überförderung der Pflegekräfte gewesen. Niemand hätte gewusst, was er eigentlich tat, berichtet Gemmel. Die Bewohner seien stark vernachlässigt und mit püriertem Essen vom Vortag ernährt worden, manchmal hätten Pflegekräfte sogar die zum Teil abgelaufenen Medikamente der Senioren vertauscht. Hygieneartikel und Dienstpläne habe es keine gegeben.
„Es gab keine Grundpflege“: Bewohner lagen stundenlang in ihren Fäkalien
Carsten Herrmann, ebenfalls ehemaliger freiwilliger Helfer in der Seniorenresidenz, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Da gab es keine Grundpflege“, sagt er zu „BR“. Teils stundenlang hätten die Senioren in ihren Fäkalien liegen müssen. Einige Bewohner wären über Nacht eingesperrt worden. Das ganze Haus sei ein einziger Notstand gewesen.
Auf Grund der katastrophalen Zustände und des Corona-Ausbruchs ermittelt die Staatsanwaltschaft München II seit vergangenem Mai gegen die vormalige Heimleiterin sowie drei weitere Personen. Der Vorwurf: Körperverletzung in 88 Fällen. Auch ermittelt die Staatsanwaltschaft in 17 Todesfällen. Dabei soll unter anderem geprüft werden, ob die Senioren verhungerten. Im Rahmen der Ermittlungen sind bereits die Gräber von zwei verstorbenen Bewohnern geöffnet worden.
Heimaufsicht wusste über die Situation im Skandalheim – und tat nichts
Doch wie konnte es so weit kommen? Wie „BR“-Reporterinnen nach monatelanger Recherche herausfanden, wusste die zuständigen Heimaufsicht im Landratsamt Miesbach um die desaströse Lage in der Seniorenresidenz Bescheid. Demnach hätten sich jahrelang Pflegekräfte sowie Angehörige der Bewohner bei der Heimaufsicht über die Zustände in der Einrichtung beschwert.
Wie auch der zuständige Landrat Olaf von Löwis (CSU) im Interview mit „BR“ bestätigte, habe die Aufsicht allerdings nicht alle Beanstandungen geprüft. Einige Beschwerden seien gar nicht erst aufgenommen worden. Schon zweimal durchsuchte die Staatsanwaltschaft in dieser Causa das Landratsamt sowie die Häuser der vier Beschuldigten. Mit welchem Ergebnis, ist noch unklar.
„Das ist ein Zeichen dafür, dass wir alle Standards einhalten“
Derweil wird auch das italienische Unternehmen Sereni Orizzonti, das die Seniorenresidenz betreibt, von der Staatsanwaltschaft durchleuchtet. Für die schlimme Situation im Heim macht Ex-Manager Siro Bona, der im Sommer 2020 die Betreiber-Firma verließ, einen strengen Sparkurs verantwortlich.
Vittorio Pezzuto, Pressesprecher von Sereni Orizzonti, weist diesen Vorwurf allerdings von sich. Das Unternehmen garantiere nach wie vor qualitative Pflege. Dass die Heimaufsicht die Residenz noch nicht geschlossen habe, sei der beste Beweis. „Das ist ein Zeichen dafür, dass wir alle Standards einhalten“, sagt er zu „BR“.