Vom Virus gelernt: So unterscheidet sich die zweite Corona-Welle von der ersten

19. November 2020 Aus Von mvp-web
Virologen haben die zweite Corona-Welle erwartet und vor ihr gewarnt, Epidemiologen haben einen zweiten Lockdown prophezeit. Beides hat sich bewahrheitet. Doch jetzt läuft alles ein wenig anders als im Frühjahr – und das ist trotz hoher Zahlen eine gute Nachricht.

Die Pessimisten haben Recht behalten: Im Herbst kletterten die Sars-CoV-2-Infektionszahlen und bauten sich zu einer massiven zweiten Corona-Welle auf. Der Lockdown light, der seit 2. November gilt und die Menschen zu weniger Kontakten in der Öffentlichkeit zwingt, zeigt nicht die erhoffte Wirkung. Nach gut zwei Wochen stehen die Zeichen eher auf Verschärfung oder Verlängerung über den November hinaus. Nicht einmal für die üblichen Familientreffen an Weihnachten will derzeit jemand eine Garantie geben.

Die zweite Welle, von der so viele Menschen im Sommer gehofft hatten, sie würde nie kommen, scheint nun schlimmer zu sein als die erste Welle von Sars-Cov-2-Infektionen im Frühjahr. Fest steht, dass sie größer ist und noch nicht gebrochen. Aber sie erwischt das Land nicht mehr kalt. Und das ist nicht der einzige Unterschied zwischen den Corona-Wellen eins und zwei.

Die beiden Wellen der Pandemie in Zahlen

Die erste Welle baute sich ab etwa dem 7. März auf, erreichte ihren Höhepunkt in den ersten Apriltagen und verebbte rund um den 22. April. Verglichen mit der aktuellen Welle war es im Frühjahr ein sanftes Plätschern:

Der höchste beim RKI gemeldete Tageswert betrug in der ersten Aprilwoche, dem Höhepunkt der Frühjahrswelle, 6000 Neuinfektionen. Derzeit werden täglich dreimal so viele Fälle ans Robert-Koch-Institut übermittelt: am Mittwoch, den 18.11. waren es 17.561 Fälle, einen Tag darauf wieder 22.609. Der bisherige Höchststand war am Freitag, 13.11., erreicht: 23.542 Meldungen gingen an das RKI.

Am Donnerstagmorgen meldet das RKI mehr als 22.000 Neuinfektionen mit Sars-CoV-2.

FOL/Datawrapper Am Donnerstagmorgen meldet das RKI mehr als 22.000 Neuinfektionen mit Sars-CoV-2.

In der Kalenderwoche 14 (30. März bis 5. April) lagen 6050 Covid-19-Patienten im Krankenhaus, davon wurden laut DIVI 2534 auf Intensivstationen behandelt. Vermutlich waren es mehr Klinik-Patienten, aber die Intensiv-Statistik wurde erst ab Ende April geführt.

Auf deutschen Intensivstationen liegen derzeit 3574 Covid-19-Patienten. 2034 von ihnen sind an Beatmungsgeräte angeschlossen. Auch diese Zahl steigt seit einigen Tagen merklich, hat aber durch die Zeitverzögerung zu den Neuinfektionen noch keinen Höhepunkt erreicht.

In der Kalenderwoche 14 erreichten auch die Todesfälle der ersten Welle einen Höchststand: 2247 Patienten starben an und mit Covid-19.  In der Woche zuvor waren es 1439 und davor wiederum 428 gestorbene Covid-19-Patienten.

Insgesamt sind in Deutschland bis heute 13.119 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben – 251 davon binnen der vergangenen 24 Stunden.

Trotz der hohen Infektionszahlen ist der R-Wert weiter gesunken: von 1,12 am 17.11. auf 1,0 am 18.11. und auf 0,88 am 19.11. Das ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass ein Infizierter in der Regel maximal eine weitere Person mit Sars-CoV-2 ansteckt. Ideal wäre Experten zufolge ein R-Wert von 0,7 oder niedriger, um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen.

Der R-Wert lag am Mittwochabend bei 0,88, das 7-Tage-R bei 0,95.

FOL/ Datawrapper Der R-Wert lag am Mittwochabend bei 0,88, das 7-Tage-R bei 0,95.

Hohe Dunkelziffer in der 1. Welle, viele Tests in der 2.

Allerdings sind die Zahlen der Infizierten nicht mit denen im Frühjahr vergleichbar. Im April konnten die Labore maximal 400.000 Tests durchführen. Heute sind es rund 1,5 Millionen PCR-Tests. Dadurch werden viel mehr milde Verläufe erfasst als im Frühjahr. Die Dunkelziffer wird auf das Zehnfache der registrierten Infektionen geschätzt. Es waren wohl die jungen, symptomfreien Sars-CoV-2-Infizierten, die damals durchrutschten.

Die vielen durchgeführten Tests in den Herbstmonaten sind aber nicht die Ursache der zweiten Welle. Denn auch die Positivfälle nehmen wieder stark zu: Im Frühjahr betrug der Positiv-Anteil aller Tests neun Prozent. Im Juli sank die Quote auf 0,6 Prozent. Zuletzt stieg die Quote wieder stark auf knapp acht Prozent.

In der 2. Welle ist das Virus kein Unbekannter mehr

Über den Ursprung und die erste Übertragung des neuen Coronavirus von Tier auf Mensch hüllt sich China in Schweigen. Das sehr schnell entschlüsselte Erbgut des Virus teilten chinesische Wissenschaftler allerdings sofort mit der Welt. Seither nehmen die Erkenntnisse über den Erreger fast täglich zu. Sie sind der Grund dafür, dass Wissenschaftler und Politiker das Infektionsgeschehen in der 2. Welle ernst nehmen, aber nicht in Panik verfallen.

Während der ersten Welle schien Covid-19 eine schwere Erkrankung der Lunge zu sein, behandelbar wie andere virale Lungenentzündungen. Die Übertragung würde per Tröpfchen- oder Schmierinfektion geschehen.

Doch nach und nach wurde klar, dass Sars-CoV-2 Herz, Gefäße oder Nervensystem ebenso wie die Lunge in Mitleidenschaft ziehen, den Geruchssinn ebenso wie die Atmung zerstören und langwierige Folgeschäden verursachen kann.

Auch die häufigste Übertragung durch Aerosole, diesen lang in der Luft verbleibenden Schwebepartikel wurde allmählich klar. Die Erkenntnis, dass Aerosole in geschlossenen Räumen mit wenig Luftaustausch und sprechenden, lachenden, singenden Menschen das größte Infektionsrisiko darstellen, ist die Basis für die gravierenden Einschränkungen des Alltags in der Pandemie.

Beruhigend in der Pandemie und vor allem für die Impfstoffentwicklung ist, dass das Virus sich bisher nur sehr wenig verändert hat. Das heißt aber auch, dass es bisher nicht zu einem harmlosen Schnupfen-Coronavirus mutiert ist, sondern weiterhin hochansteckend und krankmachend bleibt.

In der 1. Welle fehlte Schutzausrüstung für medizinisches Personal

Neben Karnevalisten (Heinsberg!) und Skiurlaubern (Ischgl!) waren es im Frühjahr die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, die sich am leichtesten mit Sars-CoV-2 infizierten – und am häufigste an Covid-19 starben. 87 Prozent aller Corona-Toten waren und sind über 70 Jahre alt.

Die Krankenhäuser stellten sich sehr schnell auf möglicherweise viele Tausend schwerkranker Patienten ein und rüsteten ihre Intensivstationen auf und um. Verschiebbare Operationen wurden gestrichen, das Personal in Infektionsschutz geschult. Damals wurden knapp 30.000 Intensivbetten zu potenziellen Covid-Therapieplätzen.

Infektiologe Christoph Spinner vom Münchner Klinikum rechts der Isar sagte im Interview: „Wir haben aus den Erfahrungen der ersten Welle den Pandemieplan entsprechend ange­passt. Hierbei ist es binnen weniger Stunden möglich, Ver­sorgungs­kapazität zwischen Nicht-Covid-19- und Covid-19-Patienten zu verschieben.“

Die große Patientenwelle kam im Frühjahr dann nicht – zum Glück. Denn das medizinische Personal war knapp und ist es heute noch. Die Personaldecke auszudehnen, ist bisher nicht gelungen. Die 12.000 weitere Betten, die innerhalb von Tagen als Notfallreserve aufgestockt werden könnten, hätten derzeit niemanden, der die Patienten betreuen würde.

Die 1. Welle brachte auch einen peinlichen Mangel zu Tage: Kliniken in ganz Deutschland beklagten einen gefährlichen Mangel an Schutzbekleidung. Es gab keinen großen gelagerten Vorrat für den Katastrophenfall. Vor allem medizinische Schutzmasken wurden knapp, aber auch Handschuhe und Desinfektionsmittel. Da die Produkte fast alle aus China kommen, riss der Nachschub im Frühjahr ab.

Inzwischen hat sich die Lage normalisiert, das Bundesgesundheitsministerium hat im großen Stil eingekauft. Auch die normalen Beschaffungswege für Heime, Arztpraxen und Kliniken funktionieren wieder. Auch Christoph Spinner sagt: „Derzeit verfügen wir über ausreichende Kapazitäten an Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln.“ Er mahnt aber auch, dass die Bevorratung solchen Materials die Achillesferse der Pandemieplanung sei.

Auch in der 2. Welle gibt es DAS Covid-Medikament noch nicht

Schwer erkrankte Covid-19-Patienten brauchen mehr und andere Therapien als die üblichen Intensiv-Patienten. Das lernten die behandelnden Ärzte während der 1. Welle. Viel gepriesene Mittel versagten (Hydroxychloroquin!), die übliche Beatmung zerstörte manche Lungen, unerwartete Thrombosen traten auf.

Eine spezifische Therapie oder ein Medikament, das Covid-19-Patienten heilen kann, gibt es immer noch nicht. Aber die Mediziner wissen sich besser zu helfen: Erstens erkennen sie heute Risikopatienten und behandeln sie frühzeitiger, gleichzeitig aber auch weniger invasiv. Die Ärzte setzen verstärkt Gerinnungshemmer wie Heparin gegen Thrombosen ein, sie lagern beatmete Patienten so, dass die ganze Lunge belüftet wird, sie beatmen lungenschonender. Das Medikament Remdesivir soll die Krankheitsdauer verkürzen und das Steroid Dexamethason bekommen Schwerkranke, wenn die Entzündungswerte anders nicht zurückgehen. Die Folge ist: Die meisten Patienten müssen heute weniger lang auf der Intensivstation bleiben oder sie können gleich auf der Normalstation behandelt werden.

AHA +L wurde nach der ersten Welle zur Zauberformel

1,5 Meter Abstand, damit einen die Tröpfchen eines hustenden Infizierten nicht erreichen, und oft und lange Händewaschen, dazu Oberflächen und Griffe desinfizieren – das waren die empfohlenen Schutzmaßnahmen zu Beginn der Pandemie. Von den vereinzelt im Straßenbild sichtbaren Masken aus Stoff oder anderem Material rieten sowohl das Robert-Koch-Institut also auch die Weltgesundheitsorganisation explizit ab.

Mit den Erkenntnissen zu Aerosolen änderte sich diese Haltung. Das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen wurde zur zentralen Maßnahme gegen Infektionen. Zusammen mit Abstand halten – in der erweiterten Form der Kontakteinschränkung – Händewaschen und Lüften wurde AHA+L das Motto des Herbstes.

Wer ein höheres Infektionsrisiko hat, etwa Vorerkrankungen oder hohes Alter, sollte zu den dichteren FFP2-Masken greifen, die mehr Schutz vor Viren bieten. Im Frühjahr vergriffen, haben Apotheken jetzt wieder reichlich Vorrat. Senioren sollen sie bald kostenlos erhalten.

Manche Experten halten heute auch Veranstaltungen mit Maske, Abstand und Hygienekonzept für möglich.

In der 1. Welle war der Sommer die große Hoffnung, in der 2. Welle ist es die Impfung

Als die Infektionszahlen im Frühjahr zurückgingen, schien sich die These zu bewahrheiten, dass Sonne und Wärme dem Coronavirus an den Kragen geht. Tatsächlich kam es im Sommer nur zu kleineren regionalen Ausbrüchen, die zwar Schlagzeilen produzierten, aber nachverfolgbar blieben.

Sobald es kälter wurde, blühte das Coronavirus wieder auf, ist jetzt flächendeckend aktiv, Kontakte sind von den Gesundheitsämtern kaum mehr zu verfolgen und das Land befindet sich im Teil-Lockdown. Im Gegensatz zum Frühjahrs-Lockdown sind jetzt Kitas, Schulen, der Einzelhandel und Friseure geöffnet. Alles andere, von Café bis Sportstudie, von Kino bis Theater, musste wieder zusperren. Kontakte sollen auf ein Minimum reduziert werden.

Die Hoffnung auf ein „normales“ Leben im kommenden Jahr ruht jetzt auf einer Impfung: Die deutsche Biontech-Entwicklung und der Impfstoff des US-Unternehmens Moderna versprechen eine 95-prozentige Wirkung. Die Zulassung im Schnellverfahren ist noch in diesem Jahr angepeilt.

Sollen die zwei Spitzenreiter auf der Schlussgeraden straucheln, sind weitere Kandidaten im Rennen, unter anderem das Vakzin von Curevac in Tübingen.

Im Frühjahr 2021 wird mit den ersten Impfungen in Europa gerechnet. Medizinisches Personal und Risikogruppen werden wohl die ersten sein, die geimpft werden können. Eine Pflicht dazu soll es nicht geben. Wie lang der Infektionsschutz anhält, wird sich erst danach zeigen.

Ein funktionierender Impfstoff gegen Sars-CoV-2 am Ende der 2. Welle – das ist mehr, als man sich in der 1. Welle im Frühjahr vorstellen konnte.