Stolpert sie noch oder stürzt sie schon? Jetzt nimmt EU von der Leyen ins Kreuzverhör

3. Februar 2021 Aus Von mvp-web
16:53:29
Früher gab es Küsschen, heute verteilt er Watschen: Altmeister Jean-Claude Juncker hat sich zu Wort gemeldet und seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen in der Impfkrise ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Darauf folgte ein Spießrutenlauf der EU-Kommissionspräsidentin durch die maßgeblichen Fraktionen des Europa-Parlaments.

In Brüssel hatte sich angesichts des Impf-GAUs der ausgebildeten Ärztin die Frage erhoben: Stolpert sie noch – oder stürzt sie schon? Für ihre Auftritte bei den Fraktionen wählte von der Leyen zumindest teilweise eine Variante zwischen diesen beiden Fortbewegungsarten: den gebeugten Gang. Einen Bußgang. „Da war gestern sehr viel Reue“, berichtete der Chef der SPD-Abgeordneten im EU-Parlament, Jens Geier, am Morgen danach. Das zahlte sich offenbar aus: Jetzt, mitten in der Krise, von der Leyens Rücktritt zu betreiben, wäre „völlig verantwortungslos“, urteilte Geiers Genosse Tiemo Wölken nach dem Auftritt der Kommissionspräsidentin. Es müsse jetzt darum gehen, „dass alle Europäerinnen und Europäer ausreichend Impfstoff bekommen“.

Von der Leyen trat mit schwerem Gepäck vor die Abgeordneten: Bevor sie – per Videoschalte – bei Sozialisten, Konservativen, Liberalen und Grünen vortanzte, hatte nicht nur die internationale Presse inklusive „New York Times“ („kapitaler Schnitzer“) sie ordentlich verhauen. Auch ihr Vorgänger Juncker hatte zugeschlagen. In der Landesvertretung Baden-Württembergs in Brüssel hielt er eine europapolitische Grundsatzrede, in der von der Leyens Impf-Management schlecht wegkam.

„Impf und Schande“ für von der Leyen im Übermaß

Ministerpräsident Winfried Kretschmann stellte den ehemaligen Kommissionspräsidenten und Eurogruppenchef als „erprobten Krisenmanager“ vor, der es „faustdick hinter den Ohren“ habe. Juncker urteilte dann über das Impf-Management seiner Nachfolgerin: „Ich finde, es ging alles zu langsam. Es ist alles nicht maximal transparent gestaltet worden.“ Die Watsche garnierte der Luxemburger mit dem Hinweis: „Ich kritisiere, aber ich schimpfe nicht.“

Schimpf und Schande (oder mit den Worten des „Tagesspiegel“-Kolumnisten Harald Martenstein: „Impf und Schande“) hat die EU derzeit im Übermaß. Dennoch erlebte nicht jeder von der Leyen bei ihrer Tour durch die Fraktionen als gleichermaßen bußfertig. So hieß es in liberalen deutschen Fraktionskreisen, der Auftritt der Präsidentin sei „mehr als enttäuschend“ gewesen, sie habe sich nur zu „sehr zögerlicher Aufarbeitung der eigenen Fehler“ bereit gezeigt. Erfolglos hatten die Liberalen darum gebeten, die Befragung live im Internet übertragen zu dürfen.

Deutsche Impf-Aufregung im Bundestagswahlkampf

Der Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Philippe Lamberts, kritisierte zwar die Geheimniskrämerei um die Verträge mit den Impfstoff-Produzenten und die Auseinandersetzung mit dem Vereinigten Königreich über Vakzin-Exporte, fand aber auch einen entlastenden Umstand für von der Leyen: den beginnenden Bundestagswahlkampf in Deutschland, wo die Impf-Aufregung innerhalb der EU am größten sei: „Ein billiger Weg, die Bundeskanzlerin anzugreifen, ist, von der Leyen zu attackieren.“

Das Heimspiel der Präsidentin bei den Parteifreunden von der konservativen EVP-Fraktion wurde dort naturgemäß als „souverän“ empfunden, sie habe sich „nicht der Verantwortung entzogen“. Doch selbst bei den eigenen Leuten fällt das Urteil in der Sache harsch aus. Von der Leyens Impf-Management sei „kommunikativ sehr schlecht gelaufen“, kritisiert der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber; die EU habe für die Impfstoff-Beschaffung ein „sehr bürokratisches, komplexes Verfahren“ gewählt.

Seit Weihnachten keine frohe Botschaft mehr

Von der Leyens derzeitiges Kernproblem liegt jedoch nicht nur im Verfahren, sondern darin, dass ihr die Deutungshoheit darüber total entglitt, sich der Eindruck eines Brüsseler Laienspiels verfestigte, das völlig abgehoben von den Nöten der Bevölkerung auf deutliche Mängel bei der Impfstoffversorgung lediglich mit Leugnen und Lamentieren zu reagieren wusste. Von der Leyens sonst gut geölte Verlautbarungsmaschine kam ins Stottern. Sichtlich genervt wies ihr Chef-Sprecher Eric Mamer die Forderung aus dem Brüsseler Pressecorps zurück, die Präsidentin möge sich zum Impf-Versagen Fragen der Korrespondenten stellen.

Von der Leyen komme in den Presseraum der EU-Zentrale Berlaymont in Brüssel, wenn sie es für geraten halte und eine Botschaft zu verbreiten habe, ließ Mamer wissen. Im vergangenen Jahr hatte die Präsidentin den Abschluss jedes Vertrages mit Impfstoff-Herstellern noch mit Presseerklärungen in den höchsten Tönen gefeiert. Unmittelbar nach Weihnachten, zum europäischen Impfstart, waren die frohen Botschaften dann rar geworden. Und wurde das Ansehen der EU beschädigt, erlitt sie einen Vertrauensverlust in der eigenen Bevölkerung.

„Kein Grund, die USA oder Israel zu beneiden“

Unverdrossen erklärte die Generaldirektorin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der Europäischen Kommission, Sandra Gallina, diese Woche vor dem Haushaltsausschuss des Europaparlaments dennoch, es gebe in punkto Impfgeschwindigkeit „keinen Grund, die USA oder Israel zu beneiden“. Bis Ende Januar seien mehr als zwölf der rund 450 Millionen EU-Bürger geimpft gewesen, hielt die Verhandlungsführerin der EU für die Impfstoff-Beschaffung fest.

In scharfem Kontrast zu allen Durchhalteparolen steht die internationale Kommentarlage, vor allem, seitdem von der Leyen die Impf-Misere zwischenzeitlich zum Impf-Krieg mit den EU-abtrünnigen Briten eskalieren ließ. Die „New York Times“ charakterisierte die Deutsche als Freundin einsamer Entscheidungen, gestützt nur auf eine Handvoll Vertraute, die Untergebene „unter den Bus“ werfe, wenn etwas schief gehe. Jahrelange Beobachter ihrer Karriere sehen Parallelen zu ihrem Verhalten in verschiedenen ministeriellen Verwendungen in Berlin. Und die dänische Tageszeitung „Jyllands-Posten“ mahnte: „Europa ist nichts ohne die Europäische Union, aber wenn das derzeitige Chaos sich fortsetzt, werden weitere Millionen von Europäern eher eine Immunität gegenüber der EU entwickeln – lange bevor sie die erste Corona-Impfung bekommen haben.“