Streeck gegen Merkel-Kurs: „Müssen aufhören, uns von Lockdown zu Lockdown zu hangeln“

24. Februar 2021 Aus Von mvp-web

14:23:02

Wir müssen lernen, mit Corona zu leben – denn weggehen wird das Virus trotz Lockdown nicht mehr. Diese These vertritt Virologe Hendrik Streeck schon seit Beginn der Pandemie. Im Gespräch mit FOCUS Online verrät er, wie er sich eine Zukunft mit Corona vorstellt.

Die Idee, in Zukunft jede Sars-CoV-2-Infektion verhindern zu können, hält Virologe Hendrik Streeck für illusorisch. Stattdessen spricht er sich dafür aus, schon jetzt Pläne zu machen, wie wir mit dem Virus in Zukunft umgehen wollen. Nur so können wir es künftig vermeiden, dass Menschen schwer erkranken und in Folge einer Covid-19-Infektion sterben. Wie das funktionieren kann, erklärt der Leiter der Virologie an der Uniklinik Bonn im Interview.

FOCUS Online: Herr Streeck, was kommt in den kommenden Jahren auf uns zu? Werden wir Corona wirklich nicht mehr los?

Hendrik Streeck: Sars-CoV-2 gehört zur Familie der Coronaviren. Verhält es sich wie die anderen heimischen Coronaviren, und davon gehe ich aus, werden die Zahlen spätestens nächsten Herbst wieder ansteigen. Im Mai und über den Sommer hinweg werden sie auf einem niedrigen Niveau bleiben. Und das jedes Jahr aufs Neue. Eine Dauerwelle, die aber in ihren absoluten Zahlen ausgedrückt über die Jahre nicht nur niedriger wird, sondern auch weniger gefährlich.

Heißt das, wir werden jedes Jahr von einer neuen Corona-Welle überrollt? Trotz Impfung?

Streeck: Blickt man nur auf die Infektionszahlen, dann mag das so aussehen. Wird im großen Rahmen getestet, werden auch wieder Infektion auftauchen. Wesentlich ist aber: Die Infektionszahlen werden irgendwann weniger relevant. Denn eine Infektion ist medizinisch erst dann wirklich relevant, wenn die Menschen krank werden. Dies sind jetzt sehr theoretische Ausführung, aber es macht Sinn sich bereits jetzt darüber Gedanken zu machen.

Es ist derzeit davon auszugehen, dass sich einige Menschen trotz Impfung infizieren können. Macht man dann einen Rachenabstrich, kann man das Virus nachweisen. Auch wenn die Person selbst nicht erkrankt oder nur milde Symptome hat. Die Zahl der Neuinfektionen wird also nach und nach weniger wichtig werden. Langfristig wird die Frage in den Vordergrund rücken, ob jemand an Covid-19 erkrankt ist.

Selbst wenn diejenigen dann nicht krank werden, können sie als Infizierte das Virus ja dennoch weitergeben. Zumal ja auch nicht alle Menschen geimpft werden können…

Streeck: Es ist wichtig, Risikogruppen zu schützen, entweder durch Impfung oder andere Maßnahmen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat ein 24-seitiges Papier erstellt, wo sie detailliert auflistet, welche Maßnahmen man zum Schutz der Risikogruppen ergreifen kann. Zum Beispiel Antigen-Schnelltests für die Besucher, verpflichtende FFP2-Masken und hochfrequentes Testen des Personals und der Besucher.

Das Virus ist für einige tödlich, aber nicht für alle. Wir müssen die Balance finden zwischen dem Ernstnehmen und nicht überdramatisieren. Damit will ich das Virus auf keinen Fall bagatellisieren. Wir müssen uns dennoch von dem Glauben wegbewegen, dass wir jede potenzielle Infektion unterbinden können. Das wird uns vielleicht im Sommer gelingen, aber nicht im Winter.

Stattdessen müssen wir uns also auf die tatsächlich an Covid-19 Erkrankten konzentrieren?

Streeck: Es bleibt die Frage nach der Relevanz, die hoffentlich durch die Impfung in den Hintergrund treten wird. Für einen Arzt ist eine Infektion dann relevant, wenn der Mensch an dem Virus erkrankt. Und das ist dann auch für das Gesundheitssystem relevant. Wir müssen also andere Parameter mit einbeziehen, wie die stationäre und intensivmedizinische Belegung, das Alter der Infizierten und vor allem auch den Impfstatus mitberücksichtigen.

Dafür brauchen wir feste Warnmarker. Wir müssen definieren, ab welcher Schwelle die Infektionszahl und die Belegungen kritisch werden. Wir haben bisher nicht abgesteckt, wo genau und in welchem Maße wir Probleme mit Kapazitäten haben. In diesem Zusammenhang habe ich auch einen Stresstest für das Gesundheitssystem vorgeschlagen.

Ein Vorschlag, der für viel Kritik sorgte…

Streeck: Ja, und das ist schade. Denn ein solcher Test kann Menschenleben retten. Es geht darum herauszufinden, wann ein Gesundheitssystem überlastet ist und bei welcher Belegung kritische Grenzen erreicht sind.

Wie lässt sich das herausfinden?

Streeck: Ein Stresstest ist ja nicht, dass wir die Krankenhäuser wirklich stressen, sondern eine Computersimulation. Es geht darum, Programme zu entwickeln und Szenarien durchzuspielen: Was passiert etwa, wenn es zum Beispiel in Greifswald einen großen Ausbruch gibt und das Krankenhaus überbelegt ist? Nach Berlin kann man nicht verlegen, da es dort zum Beispiel Covid-19-Infektionen auf der Intensivstation gibt – wohin verlegen wir dann? Haben wir Abkommen mit Polen? Wie wird der Transport geregelt sein? Die Desinfektion der Krankenwagen? Wie sorgt man für einen reibungslosen Ablauf?  Kurz gesagt: Wir sehen, ob wir richtig geplant haben – und wo wir noch nachrüsten müssen.

Das Problem, das ich im Augenblick in vielen Bereichen sehe: Wir leben nur im Jetzt, anstatt unsere Zukunft zu planen. Das ist gefährlich. Viel wichtiger wäre es, jetzt schon über den Herbst 2021 nachzudenken. Die Beratungsgremien der Regierung sollten jetzt schon Langzeitstrategien entwickeln, anstatt sich von Lockdown zu Lockdown zu hangeln.

Lassen Sie uns ein paar Jahre in die Zukunft blicken: Was wäre Ihre Wunschvorstellung, wie wir mit dem Virus umgehen?

Streeck: Ich wünsche mir, dass wir in ein, zwei Jahren sagen: Wir haben die Risikogruppe geschützt. Dass wir sagen, die Impfung hat Entspannung gebracht. Stufenpläne haben uns Sicherheit und Orientierung gegeben. Wir haben in Strukturen investiert, die nachhaltig unsere Vorbereitungen auf Pandemien verbessert. Und wir haben gelernt, dass so eine Pandemie besser gemeinsam besiegt werden kann – und das global.