Ziel der EU Bis Juli Impfstoff für 70 Prozent
23. April 2021Stand: 23.04.2021 18:03 Uhr
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen schätzt, dass 70 Prozent der EU-Bürger bis Ende Juli geimpft werden können. Zudem soll ein Vertrag mit BioNTech/Pfizer über weitere 1,8 Milliarden Dosen besiegelt werden.
Trotz massiver Lieferengpässe in den vergangenen Monaten könnte die EU früher als erwartet über genug Impfstoff verfügen, um einen Großteil der Bevölkerung zu impfen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich zuversichtlich, „dass wir 70 Prozent der europäischen erwachsenen Bevölkerung bereits im Juli geimpft haben“. Bisher hatte die EU-Behörde dies bis Ende September angestrebt.
In der EU hatten die Impfungen gegen das Coronavirus Ende Dezember begonnen. Die Impfkampagne wurde dann aber durch massive Lieferengpässe ausgebremst, insbesondere beim britisch-schwedischen Hersteller AstraZeneca.
123 Millionen Menschen in EU geimpft
Von der Leyen betonte nun, dank „verlässlicher Partner“ wie dem Anbieter BioNTech/Pfizer sei es möglich gewesen, aufzuholen und die Impfungen zu beschleunigen. Mit dieser Woche werde die EU die Marke von 150 Millionen ausgelieferten Dosen überschreiten, sagte sie beim Besuch des Pfizer-Werks im belgischen Puurs. Inzwischen hätten 123 Millionen Menschen in der EU eine Impfung erhalten.
Herstellungsprozess nun deutlich kürzer
Die EU-Kommissionspräsidentin bezeichnete es als „gute Nachricht“, dass die EU-Arzneimittelbehörde (EMA) eine weitere Kapazitätserhöhung des BioNTech/Pfizer-Werks in Puurs um 20 Prozent genehmigte. Pfizer-Chef Albert Bourla verwies zudem auf deutliche Produktionsverbesserungen. Der Prozess zur Herstellung des Impfstoffes dauere nun statt anfangs 110 nur noch 60 Tage. Allein in Puurs erlaube das ab Mai die Produktion von monatlich 100 Millionen Dosen.
Vertrag über weitere 1,8 Milliarden BioNTech-Dosen
Die EU-Kommission setzt für die Zukunft nun vornehmlich auf BioNTech/Pfizer und seinen neuartigen mRNA-Impfstoff. Die Behörde hatte Mitte April angekündigt, mit dem Anbieter über die Lieferung von weiteren 1,8 Milliarden Dosen bis zum Jahr 2023 zu verhandeln.
„Wir werden in den nächsten Tagen abschließen“, sagte von der Leyen. Mit der Menge könnten die 450 Millionen EU-Bürger über zwei Jahre hinweg geimpft werden. Die Impfdosen aus dem Vertrag sollen im Zeitraum zwischen 2021 und 2023 geliefert werden. Damit sichere sich die EU Mengen für Auffrischungsimpfungen und gegen Mutationen. Zudem solle der Impfstoff für Kinder und Teenager nutzbar sein.
Für die EU ist es der dritte besiegelte Vertrag mit den beiden Partnerunternehmen. Es ist zudem der bislang weltgrößte Impfstoff-Liefervertrag. Im Rahmen von zwei früheren Verträgen hat die Staatengemeinschaft schon 600 Millionen Impfdosen von BioNTech/Pfizer bestellt.
Medizinische Forschung „Durchmarsch für mRNA-Impfstoffe“
Stand: 21.04.2021 10:52 Uhr
Sie waren vor der Corona-Pandemie nur Experten bekannt: Impfstoffe, die auf der Verwendung von mRNA basieren. Jetzt gehen viele Experten davon aus, dass hierin die medizinische Zukunft liegt.
Von Axel John, SWR
In Deutschland laufen die Impfungen gegen SARS-CoV-2 seit knapp vier Monaten. Dabei scheint immer klarer zu werden, dass die Impfstoffe der Hersteller BioNTech/Pfizer sowie Moderna mit dem neuen mRNA-Prinzip am besten wirken. Das Präparat von AstraZeneca mit seinem genbasierten Vektorimpfstoff wird nach einigen Thrombosefällen nur noch älteren Patienten verabreicht. Auch für den Vektorimpfstoff von Johnson & Johnson gab es lange Bedenken, bevor er jetzt doch freigegeben wurde. Wird die mRNA-Technik künftig den Markt beherrschen?
Anfangs Skepsis gegenüber mRNA-Verfahren
Norbert Pfeiffer kann sich noch genau an den Beginn der Covid-Krise im Frühjahr des vergangenen Jahres erinnern. Der Vorstandsvorsitzende der Unimedizin Mainz hatte schnell davon gehört, dass Özlem Türeci und Ugur Sahin an einem mRNA-Impfstoff gegen Corona arbeiten. Pfeiffer kennt die BioNTech-Gründer gut. Türeci und Sahin hatten jahrelang im Klinikum als Krebsspezialisten gearbeitet. Schon dort trieben sie ihre Idee eines mRNA-Verfahrens voran – allerdings im Kampf gegen Krebs.
Messenger-RNA
Messenger-RNA, kurz mRNA oder auf Deutsch Boten-RNA, ist ein Botenmolekül, das genetische Informationen aus dem Zellkern zu den Ribosomen bringt. Das sind die Bereiche der Zelle, in denen – gewissermaßen nach der Bauanleitung der Erbinformation – Proteine gebildet werden. Bei den Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 wird mRNA genutzt, um den menschlichen Körper dazu anzuregen, eigene Antikörper als „Medikamente“ gegen das Coronavirus herzustellen. Impfstoffe auf Basis von mRNA können schneller entwickelt, angepasst und hergestellt werden als herkömmliche Präparate wie Vektor- oder Totimpfstoff.
„Gegenüber der mRNA-Technik gegen Corona gab es Skepsis. Die konventionellen Impfungen wie etwa gegen Grippe werden schon seit Jahrzehnten mit großem Erfolg verabreicht. Aber auch Vektorimpfstoffe, beispielsweise gegen Ebola oder Dengue-Fieber, sind bereits lange im Einsatz. Auf diese Impfstoffarten haben viele in der Corona-Krise wieder gehofft. Diese Einschätzung hat sich aber komplett gedreht“, zieht Pfeiffer eine erste Zwischenbilanz.
„Der mRNA-Wirkstoff gegen Covid-19 ist früher fertig geworden. Mit rund 95 Prozent ist die Impfung mit dem BioNTech-Wirkstoff sehr wirkungsvoll. Er liegt damit weit über den anderen Schutzraten. Das war nicht erwartet worden.“ Und auch nach den klinischen Tests habe sich der mRNA-Impfstoff bewährt, so Pfeiffer. „Die Nebenwirkungen sind insgesamt sehr moderat verlaufen. Bei AstraZeneca mit dem Vektorimpfstoff gab es in ganz seltenen Ausnahmefällen die Thrombose-Problematik. Auch wenn das ein guter Impfstoff ist, hat der mRNA-Impfstoff in sehr vielen Bereichen besser abgeschnitten und so einen Durchmarsch hingelegt.“
Vektorimpfstoffe sind dennoch unverzichtbar
Ist das aber nur ein Einmal-Erfolg im Kampf gegen Corona oder wird sich das mRNA-Verfahren auch in anderen Bereich durchsetzen? „Ich vergleiche das mal mit der Entwicklung bei Kameras“, erklärt Pfeiffer. „Kameras mit Film waren vor 20 Jahren sehr gut. Die ersten Digitalkameras waren sehr teuer und konnten qualitativ kaum mithalten. Heute gibt es kaum noch Kameras mit Film. Viele Firmen haben investiert, geforscht, produziert und konkurriert. Ich vermute, beim mRNA-Verfahren könnte es ähnlich laufen.“
Derzeit könnten mRNA-Impfstoffe die globale Nachfrage bei einer Weltbevölkerung von knapp 7,8 Milliarden Menschen aber bei weitem nicht abdecken, urteilt Pfeiffer. „Vektorimpfstoffe können sie in der ganzen Welt kostengünstig produzieren, lagern und verabreichen. Die Präparate sind sehr robust. Das mRNA-Verfahren ist dagegen teuer, und die Inhaltsstoffe sind etwa bei Schwankungen in der Kühlkette sehr anfällig. Auch auf längere Sicht können wir auf die Vektorimpfstoffe nicht verzichten.“
„Welt der Impfstoffe wird nie mehr sein wie zuvor“
Anderer Ort, ähnliche Einschätzung: Matthias Kromayer arbeitet im Vorstand der MIG AG. Der frühere Unternehmensberater ist promovierter Molekularbiologe. Die MIG AG investiert derzeit in 30 Start-ups – ein Schwerpunkt: Biotechnologie. Das Unternehmen gehörte bei BioNTech zu den Geldgebern der ersten Stunde. 2008 erhielt das Mainzer Start-up von MIG gut 13 Millionen Euro. Man hatte in München früh die Potenziale des mRNA-Verfahrens erkannt.
„In der Corona-Krise hat von den Pharma-Riesen GlaxoSmithKline, Sanofi, Merck und Pfizer nur ein Konzern auf das richtige Pferd gesetzt – nämlich Pfizer mit BioNTech“, bilanziert Kromayer. Auch zuvor sei in Sachen Forschung seit Jahren nicht mehr viel passiert. Die HPV-Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs sei die letzte echte Innovation gewesen. Man habe Impfstoffe nur noch kombiniert – mehr nicht. „Die medizinische Forschung hat sich im vergangenen Jahr durch mRNA völlig verändert. Die Welt der Impfstoffe wird nie mehr sein wie zuvor“, ist Kromayer überzeugt.
Mit der mRNA-Technik hätten die Forscher einen ganz neuen Ansatz. Jede Krankheit habe einen biologischen Ursprung, erklärt Kromayer. mRNA als Botenstoff sei auch bei diesen Abläufen immer mit dabei, und deshalb könne man hier ansetzen – nicht nur bei SARS-CoV-2.
Kromayer führt ein aktuelles Beispiel von BioNTech an: Die Firma habe gerade vor einigen Wochen erste erfolgversprechende Ergebnisse gegen Multiple Sklerose erzielt – auch mittels mRNA. „Das sind riesige Möglichkeiten. Auch im Kampf gegen Corona kann die mRNA-Technik weiter am schnellsten helfen. Sollte nach der britischen Variante bald eine neue Mutation kommen, hätte man schon innerhalb von 48 Stunden einen neuen Impfstoff dagegen. Nach Qualitätskontrollen könnte das neue Präparat dann nach sechs Wochen zur Verfügung stehen.“
EU setzt langfristig auf mRNA
Auch in Brüssel spielt das Thema Schnelligkeit in der Pandemie jetzt eine große Rolle. Nachdem die EU-Kommission im vergangenen Jahr zu spät und zu wenig Impfstoffe bestellt hatte, scheint man jetzt aus den Fehlern lernen zu wollen. Bislang hat die EU bei AstraZeneca 300 Millionen und bei Johnson&Johnson 200 Millionen Dosen bestellt. Mehr dürfte es hier wohl nicht werden, denn beide Hersteller bieten Vektorimpfstoffe an.
„Ich sehe keinen Grund, da nochmal draufzusatteln. Die mRNA-Impfstoffe schützen besser und haben weniger Nebenwirkungen“, erklärt Peter Liese. Der Christdemokat ist gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. „Langfristig geht es vor allem darum, wie kommen wir an den besten Impfstoff, der uns 2022 vor weiteren Mutationen schützt? Das spricht alles für mRNA. Dauerhaft dürfte auch die Kommission darauf setzen.“
Zu dieser Einschätzung passt, dass die Kommission erst vor wenigen Tagen Verhandlungen mit BioNTech/Pfizer über einen dritten Vertrag aufgenommen hat. Dabei geht es um 1,8 Milliarden Dosen an Impfstoffen für die Jahre 2022 und 2023. Von anderen Anbietern war nicht die Rede.
mRNA-Technik beschleunigt alles
Die mRNA-Technologie beschleunigt die Forschung enorm – was bedeutet das aber für die Prüfbehörden wie die Ständige Impfkommission (STIKO) oder die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA)? Für Mediziner Pfeiffer ist das klar: „Die Behörden müssen schneller werden. Mit weiteren Covid-Mutationen muss kurzfristig gerechnet werden. Das mRNA-Prinzip wurde ja bereits genehmigt und wird bei einer neuen Variante nur nachgeschärft.“
Das gleiche gelte auch bei anderen Krankheiten – wie etwa Krebs. „Wenn durch mRNA eine individualisierte Therapie nur für einen Patienten entwickelt wird, kann das von den Behörden nicht nochmal alles überprüft werden. Das würde für eine erfolgreiche Behandlung auch viel zu lange dauern. Das Prinzip muss einmal durchgeprüft und zugelassen werden.“
Auch in München spricht Analyst Kromayer viel von Schnelligkeit. „Wir hätten uns diese rasante Entwicklung niemals träumen lassen. Wir hatten die Hoffnung, ab 2024 die ersten zugelassenen personalisierten Krebsimpfstoffe auf mRNA-Basis zu bekommen. BioNTech und Moderna waren in der Covid-Krise die Schrittmacher. Viele weitere Unternehmen werden jetzt auf die mRNA-Technologie springen und das wird alles abermals beschleunigen.“