Angebliche Tote durch Impfen Daten ohne Kontext
2. Juni 2021Stand: 02.06.2021 14:18 Uhr
Nicht die Coronaviren seien die Gefahr, sondern angeblich die Impfungen gegen Covid-19 – das wird immer wieder behauptet. Jetzt sollen vermeintlich seriöse Zahlen und sogar ein Nobelpreisträger dafür Belege liefern.
Von Wulf Rohwedder, Redaktion ARD-faktenfinder
In einem Video unter dem Titel „Impact of COVID Vaccination on Mortality“ (Einfluss von Covid-Impfungen auf die Sterblichkeit) wird nahegelegt, dass viele Menschen nicht an Covid-19 gestorben seien, sondern angeblich an den Impfungen. Das vielfach in sozialen Medien geteilte Video zeigt – unterlegt von dramatischer Musik – Grafiken mit Kurven aus verschiedenen Staaten. Diese sollen beweisen, dass die Todeszahlen nach Beginn der jeweiligen Impfkampagnen nicht zurückgingen, sondern sogar angestiegen seien.
Entscheidende Faktoren ausgeklammert
Die Daten stammen tatsächlich aus offiziellen Quellen. Sie sind jedoch so ausgewählt, dass sie die gewünschte Interpretation vermeintlich unterstützen. Gleich mehrere entscheidende Aspekte werden dabei ausgelassen: Zunächst einmal beziehen die Auswertungen die Zahl der Covid-19-Infektionen nicht mit ein – diese ist jedoch der wichtigste Faktor für die Entwicklung der Todeszahlen.
Weiterhin wird die Entwicklung der Zahl der Toten mit dem jeweiligen Beginn der Impfkampagne betrachtet – ohne dabei zu berücksichtigen, wie viele Menschen wann geimpft wurden. Die Grafiken erwecken zudem den Eindruck, dass die Impfungen bereits unmittelbar nach Beginn der jeweiligen Kampagnen eine massive Auswirkung auf die Sterblichkeit habe, für die dadurch angeblich verursachten Todesfälle aber die Pandemie verantwortlich gemacht werde. Der Autor Joel Smalley vernachlässigt weiterhin die Entwicklung der gesamten Sterblichkeit. Hierauf weist auch der Wissenschaftsjournalist Florian Aigner hin:
Eigene Modellierung
Auf Anfrage des ARD-faktenfinder erklärte Smalley, dass er für die Ermittlungen ein einfaches mathematisches Modell entwickelt habe, mit dem er die prognostizierten Werte ausschließlich aus den bisherigen Todeszahlen extrapoliert. Dieser umstrittene Ansatz wurde auch von einigen anderen Forschern gewählt, die davon ausgehen, dass externe Faktoren wie Lockdowns und andere Eindämmungsmaßnahmen keinen Einfluss auf den Verlauf einer Pandemie haben. Seriöse Modellierungen beziehen jedoch diese und andere Parameter mit ein.
Alle anderen Faktoren habe er ignoriert, da er die Daten zu den Impfungen für nicht detailliert genug halte, erklärte Smalley gegenüber dem ARD-faktenfinder. Bei den Zahlen der Todesopfer unterscheide er zwischen „realen“ und „durch die Folgen des Lockdown beeinflussten“ Todesfälle . Ab März 2021 würden die tatsächlichen Zahlen allerdings von den Vorhersagen seines Modells abweichen, so Smalley. Daher halte er die meisten der an diesem Zeitpunkt den Covid-19-Opfern zugerechneten auftretenden Todesfälle für „unnatürlich“ – und nicht für einen möglichen Mangel seines Modells.
In seinem Video interpretiert Smalley daher die meisten in der Statistik als Covid-19-Opfer geführten Toten ab Beginn der jeweiligen Impfkampagne als Folge von Impfschäden:
In dem Video ist lediglich die Entwicklung der Covid-19-Todeszahlen inklusive einer ominösen Modellierung zu sehen.
Bezieht man jedoch die relevanten Daten mit ein, so stellt man in vielen Ländern fest, dass die Zahl der Covid-19-Toten zunächst erwartbar denen der Infektionen folgt – und nach Beginn der Impfkampagnen trotz steigender Infektionszahlen oft zurückgeht:
Ein Nobelpreisträger als vermeintlicher Kronzeuge
Als Erklärung für die angeblichen Todesfälle durch Impfungen wird von dem französischen Virologen Luc Montaigner die Behauptung aufgeführt, dass die Impfungen erst die gefährlichen Covid-19-Varianten erzeugt hätten: Die Impfungen seien „ein inakzeptabler wissenschaftlicher und medizinischer Fehler gewesen“, da sie neue, gefährlichere Mutanten hervorbrächten. Zudem würden die Impfstoffe infektionsverstärkende Antikörper (ADE) erzeugen.
Der Virologe Montaigner war in den vergangenen Jahren in der Fachwelt mehr als umstritten.
Montaigner wurde 2008 für die Entdeckung des HI-Virus mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, hat aber seitdem zahlreiche Thesen aufgestellt, die von seinen Forschungskollegen abgelehnt oder widerlegt wurden. Belege für seine aktuellen Behauptungen zu den angeblichen Impftoten liefert er nicht.
Wissenschaftler widersprechen deutlich
Dass die Impfstoffe für die Entstehung der Mutanten mitverantwortlich seien, hält Immunologe Luka Cicin-Sain für eine „ziemlich steile These“. Vielmehr wären Sars-CoV-2-Varianten an Orten entstanden, an denen viele Menschen bereits eine Infektion durchgemacht hatten. Zu dem Zeitpunkt seien Impfstoffe dort kaum oder überhaupt nicht vorhanden gewesen, erklärte der Professor am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung gegenüber dem ARD-faktenfinder. Dies hätten auch Studien, zum Beispiel aus Corona-Hotspots in Brasilien, gezeigt.
Auf der anderen Seite habe Israel als ein Land, das praktisch durchgeimpft ist, bisher keine gefährlichen Varianten hervorgebracht. Rein theoretisch wäre das durchaus möglich, sagt Cicin-Sain – allerdings sehr unwahrscheinlich: So zeigten Studien, dass gegen das Sars-CoV-2-Virus Geimpfte ein höheres Antikörperniveau hätten als Menschen, die nach einer Covid-19-Erkrankung wieder gesund wurden. Das mache die Entstehung von Mutationen in geimpften Menschen unwahrscheinlicher als in Genesenen, was auch durch die aktuelle Datenlage belegt werde.
ADE bestenfalls untergeordnete Gefahr
Laut Cicin-Sain wurde auch die von Montaigner und einigen anderen heraufbeschworene Gefahr durch sogenannte infektionsverstärkende Antikörper (ADE) bereits zu Beginn der Corona-Pandemie als mögliches Risiko erwogen. Dies sei bereits eine Sorge bei der Entwicklung von sogenannten monoklonalen Antikörpern als Immuntherapeutika gewesen. „Diesen Verdacht haben die spätere Erfahrungen und Daten aber nicht verfestigt“, sagt Cicin-Sain.
Das ADE-Phänomen sei am ehesten beim anderen Erkrankungen wie dem Dengue-Fieber bekannt, weniger bei Virusinfektionen, sagt der Immunologe. „Es ist meines Erachtens nach nichts über ADE bei anderen Coronaviren beschrieben worden.“ Andere Forscher geben ebenfalls – vorsichtig – Entwarnung.