50 Prozent Briefwähler in MV? „Das hatten wir noch nie“
6. September 2021Der bundesweit durch die Corona-Pandemie begünstigte Trend zur Briefwahl scheint auch bei den zeitgleich am 26. September stattfindenden Bundes- und Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern zu greifen.
Lag die Quote bei den jüngsten Wahlen 2016 und 2017 noch bei rund 20 Prozent, rechnen manche Kreise nun mit mehr als 50 Prozent Briefwähler-Anteil.
Wenige Tage nach Versand der Wahlbenachrichtigungen sind bei den Wahlbehörden in Mecklenburg-Vorpommern bereits Tausende Anträge auf Zusendung der Briefwahlunterlagen eingegangen. Laut einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter Kreisen und Städten ist die Nachfrage deutlich höher als bei früheren Wahlen. Demnach rechnen die Kreise Vorpommern-Greifswald und Mecklenburgische Seenplatte damit, dass mindestens jeder zweite Wähler sein Votum per Brief abgibt. „Das hatten wir noch nie“, sagte eine Sprecherin in Neubrandenburg. In der Stadt seien in der ersten Woche mehr als 4.000 Briefwahlunterlagen beantragt worden.
Briefwahl-„Antragsflut“ in Schwerin
In Schwerin, wo bereits seit dem 1. September die Briefwahl möglich ist, wurden laut der lokalen Wahlbehörde mehr als 13.000 Briefwahlunterlagen angefordert und teilweise auch schon verschickt. Die Stadt sprach von einer Antragsflut und geht von einer wesentlich höheren Briefwahlquote als zur Landtagswahl 2016 aus. Die Briefwahl kann nicht nur zuhause durchgeführt werden. In Neubrandenburg und anderen Orten des Landes öffnen Briefwahllokale, in denen schon jetzt – auch ohne vorherigen schriftlichen Antrag – die Stimmabgabe erfolgen kann.
Rostock: Zahl der Briefwahlvorstände fast verdoppelt
In Rostock mit seinen 168.000 Wahlberechtigten gehen den Angaben der Stadt zufolge täglich mehrere Tausend Anträge ein. Bis zum vergangenen Donnerstag seien rund 28.000 Wahlscheine ausgestellt worden. Bei der Bundestagswahl 2017 habe es in der Hansestadt insgesamt 34.000 Briefwähler gegeben, der Briefwähler-Anteil habe bei rund 20 Prozent gelegen. Weil die Stadt bei den Wahlen mit deutlich mehr Briefwählern rechnet, wurde die Zahl der Briefwahlvorstände auf 52 erhöht und damit fast verdoppelt.
Stralsund/Greifswald: Schon Tausende Briefwahlunterlagen beantragt
In Greifswald hatten in der Vorwoche schon mehr als zehn Prozent der 46.000 Wahlberechtigten Briefwahlunterlagen beantragt. In Stralsund gingen nach Angaben der Stadt mehr als 4.000 solcher Anträge ein, viele würden noch erwartet. Kreissprecher in anderen Kreisen des Landes verwiesen demnach auf die Zuständigkeit der Wahlbehörden in Städten, Gemeinden und Ämtern, bestätigten aber unter Berufung auf erste Rückmeldungen die hohe Nachfrage.
Kein Einfluss auf Tempo der Auszählung
Landeswahlleiterin Gudrun Beneike sagte bei NDR MV LIVE, die hohe Zahl der Briefwähler habe keinen Einfluss auf das Tempo der Auszählung am Wahlabend. Allerdings werden in den Wahllokalen die Stimmzettel der Bundestagswahl vor jenen der Landtagswahl ausgezählt. Deshalb sei mit einem amtlichen Endergebnis der Landtagswahl erst nach Mitternacht zu rechnen. Der Politikwissenschaftler Jan Müller von der Universität Rostock wies allerdings darauf hin, dass die Ergebnis-Prognosen unmittelbar nach der Wahl von den endgültigen Ergebnissen mehr als üblich abweichen könnten, da die Prognosen im Wesentlichen auf der Befragung von Wählerinnen und Wählern vor den Wahllokalen beruhen. Briefwähler werden von den Wahlforschern nicht befragt.
1957 bundesweit fünf Prozent Briefwähler
Berufliche Gründe, Urlaubsfahrten oder ein bevorstehender Umzug würden hauptsächlich als Gründe für die Beantragung von Briefwahlunterlagen genannt, hieß es. Als die Briefwahl erstmals 1957 in der Bundesrepubklik möglich war, lag die Briefwählerquote noch bei rund fünf Prozent. Vor allem seit den 1990er-Jahren stieg sie stetig an. Bedingt durch die Corona-Pandemie mit Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen erreichte sie bei den Landtagswahlen in diesem Jahr einen Rekordstand: In Baden-Württemberg votierten knapp 52 Prozent per Post, in Rheinland-Pfalz sogar zwei Drittel (66 Prozent).
Kritiker monieren geringere Integrität der Briefwahl
Der hohe Anteil der Briefwähler ruft auch manchen Kritiker auf den Plan. Unter Verweis auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2013 sehen sie die im Grundgesetz festgeschriebene Erfordernis einer „allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl“ in Gefahr. Die Integrität sei bei einer Urnen- und einer Briefwahl nicht gleichermaßen gewährleistet – nicht zuletzt deshalb, weil die Briefwahl weniger frei und weniger geheim als eine Stimmabgabe in der Wahlkabine sei, etwa wenn Familienangehörige einer Seniorin beim Ausfüllen ihrer Briefwahlunterlagen helfen würden.