Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Die Corona-Pandemie begleitet er als Experte und Forscher. Unter anderem hat er für eine Studie die Ausbreitung des Virus im Kreis Heinsberg untersucht, einem der ersten deutschen Corona-Hotspots. Eines seiner Spezialgebiete ist die HIV-Forschung. In seiner Laufbahn war Streeck, der bei Göttingen aufwuchs, unter anderem an der Harvard Medical School in Boston tätig.
Zuletzt haben wir beobachtet, dass die Zahl der Sterbefälle nicht deutlich zugenommen hat, die Infektionszahlen aber schon. Liegt das auch daran, dass sich vor allem Junge infizieren?
Streeck: Es ist vielschichtiger. Ja, es waren zuletzt die Jüngeren, die sich infizierten. Hinzu kommt aber, dass wir generell kaum schwere virale Lungenentzündungen im Sommer sehen – das gilt für alle viralen Erkrankungen. Es ist ein Phänomen, das wir kennen, ohne dass wir schon den Mechanismus dahinter verstehen. Dritter Punkt: Wir wissen zum Beispiel für die Grippe, dass eine Reduktion der Infektionsdosis mildere Symptome verursacht. Und dafür sorgen wir mit Verhaltensweisen wie Abstand und dem Tragen einer Maske.
Sie plädieren dafür, sich bei der Einschätzung der Lage nicht nur auf die Infektionszahlen zu beziehen.
Streeck: Ja. Eine asymptomatische Infektion ist ja zunächst einmal nichts Schlimmes. Die Person kann sich danach vermutlich erstmal nicht mehr infizieren und auch nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen. Zudem ist es nicht auszuschließen, Langzeitfolgen zu haben. Daher finde ich es wichtig, dass wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen. Wir dürfen sie natürlich nicht außer Acht lassen. Aber wichtiger ist, dass wir aus den Daten lernen. Die Auslastung in der stationären Behandlung und der Anteil der belegten Intensivbetten müssen meines Erachtens nach im Verhältnis mit eingerechnet werden. Anhand dieser Daten müssen wir die Schwellenwerte definieren, ab denen Maßnahmen strikter werden.
Es ist immer wieder von einem Kipppunkt die Rede, ab dem die Fallzahlen schlagartig steigen können. Gilt das auch für Deutschland?
Streeck: Dafür gibt es keine Erfahrungswerte. Den Kipppunkt haben wir noch nie gehabt. Wir hatten bislang nie einen exponentiellen Anstieg. Auch jetzt sehen wir eher einen linearen Anstieg.
Wäre es nicht dennoch ratsam, die Infektionszahlen jetzt vor der kalten Jahreszeit wieder massiv zu drücken?
Streeck: Das Virus ist ja schon Teil von unserem Alltag. Wir würden es nur mit den allerhärtesten Maßnahmen schaffen, es einzudämmen. Dann aber errichten wir eine Art künstlichen Staudamm, während es in anderen Ländern weiterläuft. Und irgendwann wird es dann auch bei uns wieder losgehen. Daher müssen wir mit Augenmaß und intelligenten Systemen – etwa Schnelltests am Eingang eines Pflegeheims – das Geschehen kontrollieren. Es kann nicht darum gehen, es komplett einzudämmen.
Herbst und Winter sind auch Grippe-Saison. Werden wir Doppelinfektionen sehen? Und wie gefährlich ist das?
Streeck: Gleichzeitige Infektionen mit Grippe und einem anderen Virus sind sehr, sehr unwahrscheinlich. Weil das Immunsystem im Moment einer Infektion so im Alarm ist, dass eine zusätzliche Infektion mit einer weiteren viralen Erkrankung sehr selten vorkommt. Es kann in Ausnahmefällen passieren und es gibt auch Publikationen, in denen das beschrieben wird. Aber dann ist die zweite Infektion untergeordnet. Daher gibt es keine Doppelsymptomatik im eigentlichen Sinne.
Glauben Sie, dass Deutschland gut auf den Herbst und Winter vorbereitet ist mit seinem Gesundheitssystem?
Streeck: Ich glaube, im Gesundheitssystem sind wir sehr gut vorbereitet. Mental sind wir dagegen in Deutschland weniger gut vorbereitet, so empfinde ich es zumindest. Es gibt zu viel Angst. Und wir haben es über den Sommer hinweg nicht geschafft, pragmatische Lösungen zu finden, wie man in bestimmten Bereichen weiter machen kann, wenn die Infektionszahlen deutlich steigen. Da wurden Chancen ausgelassen. Meine Sorge für den Herbst ist, dass wir zu wenig über Lösungen diskutieren und zu viel darüber, wie wir das Leben wieder zurückfahren.
Interview: Jonas-Erik Schmidt, dpa