Entwickelt von Hendrik Streeck und Aersol-Experten: RKI warnt vor Superspreading: 8-Punkte-Check zeigt, wann das Risiko besonders hoch ist
29. Oktober 2021Das Robert-Koch-Institut warnt vor weiter steigenden Corona-Zahlen – vor allem durch Kontakte in Innenräumen. Um besser einschätzen zu können, wie hoch das Risiko in welcher Umgebung ist, hat Virologe Hendrik Streeck gemeinsam mit Aerosol-Forschern und Lungenmediziner den „Lufthygiene“-Guide veröffentlicht.
Die Corona-Fallzahlen steigen. Und werden dies vermutlich auch noch weiter tun, darin sind sich die meisten Experten einig. Gerade wenn zu den Corona-Patienten auch noch eine Vielzahl von Grippe-Kranke kommt wie etwa von Gesundheitsminister Jens Spahn befürchtet, könnte das erneute, mindestens punktuelle Überlastungen des Gesundheitssystems bedeuten. Nach Informationen von FOCUS Online gehen einige Intensivmediziner davon aus, dass die Intensivstationen in Spitzenzeiten mit bis zu 5000 Corona-Patienten belegt sein werden. Je geringer die Impfquote in einem Bundesland, desto höhere Zahlen werden erwartet.
Das Robert-Koch-Institut mahnt in seinem Wochenbericht: „Bei den gegenwärtigen 7-Tage-Inzidenzen besteht eine zunehmende Wahrscheinlichkeit infektiöser Kontakte. Daher wird dringend empfohlen, das Impfangebot gegen Covid-19 wahrzunehmen und hierbei auf einen vollständigen Impfschutz zu achten.“ Insbesondere bei den jetzt deutlich steigenden Fallzahlen sollte allerdings auch unabhängig vom Impf-, Genesenen- oder Teststatus das grundsätzliche Infektionsrisiko und der eigene Beitrag zur Verbreitung von Sars-CoV-2 reduziert werden. „Deshalb sollten alle Menschen konsequent die AHA+L-Regeln einhalten, Situationen insbesondere in Innenräumen, bei denen sogenannte Super-Spreading-Events auftreten können, möglichst meiden, nicht notwendige Kontakte reduzieren und weiterhin die Corona-Warn-App nutzen“, schreibt das RKI.
Auch Geimpfte sollten vorsichtig sein
Der wesentliche Faktor für die steigenden Zahlen, auf den auch das RKI regelmäßig hinweist: Im Herbst und Winter verlagert sich unser Leben in Innenräume, und dort ist das Ansteckungrisiko viel höher als im Sommer, wo man sich viel draußen aufhält.
Der Virologe Hendrik Streeck hat zusammen mit dem Aerosol-Forscher Gerhard Scheuch, den Lungen-Medizinern Thomas Voshaar und Dieter Köhler sowie den Lüftungs- und Gebäude-Experten Achim Keune und Rüdiger Külpmann kürzlich ein Papier namens „Der Lufthygiene-Check: Sichere Räume in einer Pandemie“ herausgebracht. Das über viele Monate hinweg erarbeitete Papier fasst kompakt den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen und macht konkrete Angaben, wo man einer höheren Infektionsgefahr ausgesetzt sei.
Experten um Hendrik Streeck: Lüften statt Lockdown
Die Experten betonen, dass man trotz positiver Entwicklungen bei Atemwegsinfektionen wegen Corona weiter wachsam sein sollte: „Das wird auch geimpfte Personen betreffen, nicht zuletzt, weil sich das Virus ständig verändert. Derzeit ist noch unklar, inwieweit Sars-CoV-2-Geimpfte und dennoch Infizierte das Virus weitergeben können. Eine Impfung schützt daher in erster Linie vor einem schweren Verlauf und die Infektionen verlaufen deutlich milder„, so die Wissenschaftler.
Erneute Lockdown-Maßnahmen müssen nach Ansicht der Experten um Streeck in jedem Fall vermieden werden. „Sie haben einen geringen Nutzen, erzeugen aber hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Kollateralschäden. Wir schlagen stattdessen einen Präventionscheck für Innenräume vor, der das Infektionsrisiko nach dem Stand der aktuellen Forschung minimiert„, so die Experten in einem offenen Brief, der FOCUS Online vorliegt.
Warum Aerosole so tückisch sind
Weiter heißt es dort: „Innenräume sind der zentrale Infektionsort. An der Außenluft gibt es keine relevante Ansteckungsgefahr (<0,01% im Vergleich zu Innenräumen). Die Ursache ist in dem vom Menschen erzeugten Vertikalflow durch die warme Ausatemluft und die Körperwärme zu finden (bis zu 100m³/h), der die abgeatmeten Aerosole stark verdünnt. Windströmung draußen verdünnt die Konzentration zusätzlich.“
Aerosole sind winzige Luftbestandteile, die selbst beim Sprechen ausgeatmet werden. Der Aerosol-Forscher und Physiker Gerhard Scheuch hat bereits im Interview mit FOCUS Online erklärt , was das bedeutet: „Je länger sich ein Infektiöser in einem Raum befindet, desto stärker steigt die Aerosol-Konzentration. Und sie ist auch dann noch da, wenn derjenige den Raum schon längst verlassen hat. Wenn dann irgendjemand diesen Raum betritt, kann er sich infizieren. Das ist das Tückische: Man kann sich infizieren, ohne dass man den Überträger überhaupt getroffen hat. Auf diese Weise haben sich zum Beispiel in China 71 Leute in einem Fahrstuhl infiziert„, berichtet Scheuch.
Allerdings besteht die Gefahr nur dann, wenn sich die Aerosole überhaupt in ausreichender Menge im Raum ansammeln können. Die Experten verstehen ihre Einteilung der Innenräume nach Infektionsgefahr in „sehr geringes Risiko“ bis „sehr hohes Risko“ nach eigenen Angaben als „praktische Handlungsanleitung für das alltägliche Leben.“
Der Punkte-Check: Wann ist das Risiko hoch und wann nicht?
Scheuch und Streeck erklären das Thema auch leicht verständlich in einem Video (direkter Link). In einem Punkte-System (siehe Tabelle) lassen sich die Räume in verschiedene „Risiko-Klassen“ einteilen. Je nach Risikofaktor werden bis zu vier Punkte vergeben oder auch abgezogen. Liegen keine CO2- oder Aerosol-Konzentrationsmessungen vor, dann sollten in die Tabelle jeweils einfach 0 Punkte eingetragen werden.
Folgende Faktoren spielen eine Rolle:
- Anzahl der Personen, die sich in einem unbelüfteten Raum aktuell aufhalten oder sich bis vor kurzem aufgehalten haben können. „Mit der Anzahl der Personen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Infizierter im Raum befindet und je mehr Menschen im Raum sind, umso mehr können sich potenziell infizieren„, so die Experten.
- Aufenthaltszeit. „Durch eine infektiöse Person im Raum steigt die Konzentration der Viren in der Zimmerluft mit der Zeit und je länger sich nicht infizierten Personen in dem Raum aufhalten, desto mehr Viren inhalieren sie„, so die Wissenschaftler.
- Volumen des Raumes. Je größer der Raum, umso geringer ist die Konzentration der Viren im Raum.
- Raumhöhe. „Durch den vom Menschen erzeugten Vertikal-Flow sind hohe Räume besonders sicher, denn die abgeatmeten virushaltigen Aerosole bewegen sich nach oben„, heißt es in dem Papier. Das bedeutet, dass in hohen Räumen – etwa Supermärkten, Turnhallen, etc. – das Risiko um ein Vielfaches geringer als etwa in einer engen Kneipe.
- Effektivität der Lüftung. Die Frischluftmenge, die dem Raum zugeführt wird, verdünnt die Aerosole. „Bei Fensterlüftung hängt das insbesondere von der Temperaturdifferenz drinnen/draußen und der Windbewegung ab. Je größer die Temperaturdifferenz, desto größer der Effekt. Allerdings steigt dann auch der Energieverbrauch durch die Abkühlung„, so die Experten.
- Effektivität von Raumluftreinigungsgeräten.
- Dauerhaftigkeit und Effektivität von Masken, die von den Personen im Raum getragen werden. „Schutzschilde sind wirkungslos, da die infektiösen Aerosole dadurch nicht an der Ausbreitung im Raum gehindert werden„, betonen die Wissenschaftler.
- Atemfrequenz und Atemtiefe der infizierten und nicht infizierten Personen im Raum. „Vermehrte Ventilation entsteht z. B. bei körperlicher Arbeit, Sport und Singen„, so die Wissenschaftler.
2G-Regel im Supermarkt?
Betrachtet man sich das Punktesystem, wird klar, dass eine „2G-Regel“ wie derzeit in Hessen – der Einzelhandel darf Ungeimpften den Zutritt verwehren – allenfalls in kleinen Geschäften mit engem Kundenkontakt aus wissenschaftlicher Sicht Sinn machen würde. In einem Supermarkt dagegen (bessere Lüftung, hohe und große Räume, geringe Verweildauer) oder großen Hallen ist das Infektionsrisiko gering.
Der „Super-Gau“ für Infektionen sind enge, schlecht belüftete Kneipen oder Diskotheken mit vielen Personen, die auch noch laut reden oder singen. Wie sich in der Praxis bereits gezeigt hat, gab es in solchen Örtlichkeiten selbst bei Veranstaltungen, bei denen die 2G- oder 3G-Regel galt, Corona-Ausbrüche.
Vorsicht in Toiletten, Fahrstühlen, Bus und Bahn
Im Wesentlichen decken sich die Ergebnisse des „Lufthygiene-Checks“ mit den Angaben, die das RKI in einer Übersicht zum Infektionsrisiko macht. Als Maßnahmen zur Risiko-Minimierung schlagen die Experten rund um den Virologen Streeck vor:
- Begrenzung der Anzahl der Personen in einem Raum
- Begrenzung der Aufenthaltszeit der Personen in einem Raum
- Prioritäre Nutzung großer und hoher Räume (z. B. viele Turnhallen, Aulen – diese bräuchten meist keine zusätzlichen besonderen Schutzmaßnahmen)
- Erhöhung der Frischluftzufuhr
- Einsatz effektiver Raumluftreinigungsgeräte
„Besonders ungünstig sind kleine Räume ohne oder mit wenig Lüftung (kleine Büros und Aufenthaltsräume, Fahrstühle, Toiletten, Kraftfahrzeuge, öffentliche Verkehrsmittel usw.). Hier kann eine konzentrierte infektiöse Aerosolwolke längere Zeit in der Luft stehen bleiben (ähnlich Zigarettenrauch) und dann Personen anstecken, die den Raum betreten (z. B. Reinigungspersonal). Mitunter sind sich Virusspreader und Infizierter nie begegnet“ so die Wissenschaftler.