Schärfere Sanktionen, Sperrstunden, Alkoholverbot – Schnurstracks in die zweite Welle: Diese Szenarien erwarten uns im Corona-Herbst
12. Oktober 2020
„Deutschland im Herbst“ heißt ein Film aus den späten 1970er-Jahren, der die Bundesrepublik unter der Bedrohung des RAF-Terrorismus thematisiert. Deutschland im Herbst 2020 wird ebenfalls terrorisiert, nicht von Möchtegern-Revolutionären, sondern von einem unsichtbaren Feind, dem Coronavirus Sars-CoV-2.
So wie es aussieht, behalten all jene Recht, die im Frühsommer entgegen der allgemeinen Hoffnung eine zweite Welle für unvermeidbar hielten. Damals waren die Infektionszahlen so stark gesunken, dass einige schon vom Ende der Pandemie – zumindest in Deutschland – sprachen. Sogar der eher mahnende Christian Drosten sagte Ende Mai in seinem Podcast, dass er allmählich daran glaube, glimpflich durch Herbst und Winter zu kommen, „ohne eine tödliche neue zweite Welle“.
Dass dafür die geltenden Vorsichtsmaßnahmen – von Maske tragen bis Verzicht auf größere Treffen bis zu konsequenter Quarantäne – eingehalten werden müssten, sahen nicht nur die Corona-Zweifler nicht ein. Das Virus kam im Sommer als Urlaubssouvenir aus Risikogebieten zurück. Es taucht inzwischen immer wieder als Gastgeschenk bei großen Familienfeiern auf. Und es breitet sich im jungen Feiervolk aus.
Aus vereinzelten Ausbrüchen wurden viele Infektionscluster, aus einer fast reinen Deutschlandkarte mit vielen coronafreien Landkreisen wurde eine voller Risikozonen.
Jetzt geht Deutschland mit Infektionszahlen wie im April in den Herbst. Seit einer Woche klettern sie täglich über 4000. Am Samstag, den 10. Oktober, verzeichnete das Robert-Koch-Institut 4721 Neuinfektionen. Bei Politikern, Gesundheitsverantwortlichen und Corona-Experten schrillen sämtliche Alarmglocken.
AHA-Regel plus L – genügt das Mantra der Corona-Abwehr im Herbst?
Auch der bisher verhalten optimistische Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité klang zuletzt düster: Ob wir ohne Explosion der Infektionszahlen durch den Winter kommen, könne „keiner beurteilen. Das müssen wir sehen“, meinte er im „Zeit Online“-Interview. Aber das Virus könne „wieder harte Gegenmaßnahmen erzwingen, einfach weil es nicht tragbar ist, in einer Gesellschaft mit unserem Altersprofil diese Krankheit durchlaufen zu lassen. Die vergangenen und derzeitigen Maßnahmen stehen daher nicht infrage.“
Die AHA-Regel – Abstand, Handhygiene, Alltagsmaske – ist den meisten Deutschen in Fleisch und Blut übergegangen. Und auch die Erweiterung „L“ für Lüften haben viele schon verinnerlicht, nachdem stehende Luft in Innenräumen als Risikofaktor für Infektionen erkannt wurde. Den Begriff „Aerosole“ kennt heute jedes Schulkind.
Doch das „brave“ Verhalten der Mehrheit scheint nicht zu genügen. Vor allem die Metropolen werden zunehmend zu Hotspots. Jeden Tag reißt eine weitere Großstadt die gefürchtete Marke von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner. Zu Berlin, Bremen, Köln und Frankfurt kamen am Wochenende und am Montag Essen, Stuttgart und München hinzu. Als Hauptverantwortliche für explodierende Infektionszahlen sind die Feiernden in Szenevierteln ausgemacht.
Die Partygänger sollen Verzicht üben – um zweite Corona-Welle zu vermeiden
Weil das Land nicht noch einmal in einen weitgehenden Lockdown geschickt werden soll, und weil Infektionen sich vor allem dort ausbreiten, wo viele Menschen ohne „AHA“ zusammenkommen, werden Einschränkungen in Herbst und Winter vor allem den Freizeitbereich betreffen. „Ob das Feiern oder das Reisen unbedingt sein müssen, kann jeder selbst beantworten“, erklärte Gesundheitsminister Spahn angesichts von 4000 Neuinfektionen am 8. Oktober. Er kritisierte den „ignoranten Umgang mit der Pandemie“ der jungen unbekümmerten Partygänger.
An die jungen Menschen, die gerade einen Teil ihrer Lebensqualität einbüßen, appellierte Angela Merkel, als sie einen Tag später mit den Bürgermeistern der größten deutschen Städte Corona-Maßnahmen diskutierte. „Denken auch Sie einmal darüber nach, was Ihnen am wichtigsten ist“, sagte die Kanzlerin. Dazu gehörten sicher die Gesundheit der Großeltern und der Familie, eine gute Ausbildungs- und Jobchance im kommenden Jahr. „Ist es dafür nicht wert, jetzt ein wenig geduldig zu sein“, so Merkel weiter.
Sperrstunde in der Feierhauptstadt Berlin – erstmals seit 70 Jahren
Der Appell richtete sich zwar nicht speziell an die Berliner, die sich zur Risikozone gefeiert haben. Die Stadt, die stolz auf ihre Clubszene zwischen Berghain und KitKat Club war, steht unter Schock. Erstmals seit 1949 trat ab dem 10. Oktober eine Sperrstunde in Kraft. Um 23 Uhr müssen alle nach Hause gehen. Alkohol darf dann auch nicht mehr verkauft werden, nicht einmal an der Tanke.
Auch Frankfurt hat die 23-Uhr-Sperrstunde und Alkoholverbot eingeführt. Andere Kommunen könnten folgen. So lange die Infektionszahlen in den Hotspots nicht deutlich nach unten gehen, werden diese Maßnahmen nicht zurückgenommen.
Sperrstunden, Teilnehmergrenzen bei Feiern im öffentlichen und privaten Raum, Reisebeschränkungen in Form von Beherbergungsverboten – mehr Einschränkungen wollen Politiker den Bürgern momentan noch nicht zumuten. Diese müssten die Maßnahmen verstehen und akzeptieren. Gesundheitsminister Spahn sagt: „Die Pandemie ist ein Charaktertest für unsere Gesellschaft. Das geht nur gemeinsam.“
Ähnliches ist von Kanzlerin Merkel zu hören: „Wir haben bewiesen, dass wir zusammenhalten können. Das sollten wir auch weiterhin tun.“ Beim Treffen mit den Großstadt-Oberbürgermeistern macht sie aber auch klar: „Wir stehen an einem Punkt, wo wir Prioritäten setzen müssen.“ Der Fokus müsse darauf liegen, das wirtschaftliche und öffentliche Leben nicht wieder herunterfahren zu müssen. Auch die Schulen müssten offen bleiben.
Appelle an den guten Willen der Bürger
Merkel und Spahn appellieren an den guten Willen, das Verantwortungsbewusstsein und das Verständnis der Bürger, dass die persönlichen Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen beibehalten und vielleicht auch ausgedehnt werden müssen. Merkel betonte etwa, dass ihr bewusst sein, wie sehr strenge Regeln zu Feiern und Familienfesten ins Privatleben und die Freiheit eingriffen.
Ob die Menschen aus Überzeugung und freiwillig mitmachen, bezweifelt der Direktor des Instituts für Krisenforschung in Kiel, Frank Roselieb. Menschen hielten sich weniger an Verhaltensregeln, wenn diese nicht auch nachhaltig sanktioniert würden, sagte er der dpa. „Hier unterscheiden sich die AHA-Regeln einer Pandemie nicht von Verkehrsschildern, die ohne Radarkontrollen auch nicht funktionieren würden.“
Schärfere Strafen für Risikoverhalten
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sieht das offenbar auch so. In mehreren Interviews machte er sich am Wochenende für schärfere Strafen bei Verstößen gegen die Corona-Regeln stark. Konkret forderte ein bundesweites Bußgeld von 250 Euro für Maskenverweigerer, wie es in seinem Bundesland bereits gilt. Söder brachte auch erstmals wieder die Gefahr eines zweiten Lockdowns zur Sprache. „Es ist fünf vor zwölf“, sagte er, und: „Wir dürfen uns die Lage nicht länger schön reden.“
Frühere Sperrstunden, Maskenpflicht im gesamten öffentlichen Raum und verschärfte Regeln für Restaurants könnten auf die Bundesbürger zukommen.
Ob in diesem Advent tatsächlich die großen Weihnachtsmärkte stattfinden können, ist selbst dort, wo sie nicht ohnehin schon abgesagt sind, fraglich. München etwa stellt den Budenbetreibern zwar eine Verlängerung des Markts bis zum 10. Januar in Aussicht, behält sich aber auch eine kurzfristige Absage vor. Diskutiert wird auch, ob Weihnachtsmärkte abends früher schließen sollten.
Öffentliche Silvesterpartys wird es von 2020 auf 2021 mit Sicherheit nicht geben.