Analyse: Corona-Maßnahmen – Hat die Politik in der vierten Welle versagt?
25. November 2021Hunderte Tote täglich, mehr als 70.000 Neuinfektionen: Deutschland steckt mitten in der vierten Welle. Wie konnte das passieren? Welche Fehler hat die Politik gemacht? Ein Erklärungsansatz in sechs Punkten.
1. Hat sich die Corona-Lage innerhalb kurzer Zeit so drastisch verschärft, dass die Politik nicht damit rechnen konnte?
Juli 2021 in Deutschland: Die Corona-Inzidenzen sind niedrig, das Land im Urlaubsmodus und Gesundheitsminister Jens Spahn gibt trotzdem den Spielverderber. In der Bundespressekonferenz warnt er, dass Deutschland aktuell bei einer Inzidenz von elf bis zwölf liege, „wenn sich das so weiter verdopple, alle zwölf Tage, dann werden wir im September die 400 überschreiten, im Oktober die 800.“
Ganz so schnell ging es nicht, aber bei der bundesweiten Inzidenz von mehr als 400 in dieser Woche ist die Lage auf vielen Intensivstationen in Thüringen, Sachsen und Bayern dramatisch.
Der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, der bayerische CSU-Politiker Klaus Holetschek, sprach trotzdem noch Anfang November davon, dass die derzeitige Lage nicht vorhersehbar gewesen sei. Sein Chef, Markus Söder, ging sogar noch einen Schritt weiter. Er behauptete, dass „nahezu alle Virologen, Epidemiologen und Wissenschaftler auch die Wirkung dieser neuen Welle in ihrer Wucht und Geschwindigkeit nicht richtig eingeschätzt haben.“
Söders Behauptung widerspricht beispielsweise den Aussagen des Virologen Christian Drosten, der bereits im Juli vor einer vierten Welle gewarnt hat, wenn die Impfquote nicht deutlich erhöht werde. Im September wiederholte er: „Mit dieser Impfquote können wir nicht in den Herbst gehen.“
Zwar lässt sich nicht exakt vorhersagen, wie sich die Pandemie entwickelt. Aber Warnungen gab es genügend. Auch das Robert Koch-Institut hat schon im Juli – auch vor dem Hintergrund der hochansteckenden Delta-Variante – Szenarien für den Herbst entwickelt und Maßnahmen empfohlen. Dazu gehörten flächendeckende Auffrischungsimpfungen. Doch statt das „Boostern“ voranzutreiben, wurden Impfzentren geschlossen.
2. Haben SPD, Grüne und FDP die Situation falsch eingeschätzt?
Während der heißen Phase im Bundestagswahlkampf lieferte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, der FDP eine perfekte Steilvorlage. Per Zeitungsinterview forderte der Orthopäde und Ärztefunktionär das Ende aller Corona-Beschränkungen bis zum 30. Oktober. Sein Motto „Freedom Day“ statt „German Angst“, wurde von Partei-Größen wie Wolfgang Kubicki in Wahlkampfreden dankbar aufgenommen.
Vor allem der FDP, aber auch den Grünen war die sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite schon lange ein Dorn im Auge. Sie ermöglichte der Regierung über Monate weitreichende Befugnisse wie bundesweite Lockdowns oder Schulschließungen.
Die drei Ampel-Parteien wollten rechtssichere Lösungen im Kampf gegen die Pandemie. Sie hielten so drastische, nationale Maßnahmen und Durchgriffsrechte für nicht mehr verhältnismäßig. Obwohl es selbst aus den eigenen Reihen Gegenwind gab. Unter anderem drei Grünen-Gesundheitsminister aus den Ländern forderten eine Verlängerung der epidemischen Notlage.
Nach den Abstimmungen für das neue Infektionsschutzgesetz in Bundestag und Bundesrat kam auch von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder weiter Grundsatzkritik. Er twitterte nicht ohne einen Seitenhieb auf eine weitere Einigung der Ampelparteien: Es sei unangemessen, die epidemische Notlage abzuschaffen und parallel Drogen zu legalisieren. Allerdings, die Verantwortung für die Umsetzung auch von strengen Corona-Maßnahmen liegt bei den Ländern. Die Instrumente dazu gab es seit langem. Auch jetzt haben sie die Möglichkeit auf das Infektionsgeschehen zu reagieren, auch mit Kontaktbeschränkungen und Lockdowns auf lokaler Ebene.
Deutlich wird aber auch: Die künftige Regierungswirklichkeit hat die Ampel-Parteien in der Pandemie in Rekordzeit eingeholt.
3. Hat man bei den Beratungen zum neuen Infektionsschutzgesetz zu sehr auf die juristische Seite gesetzt?
Fragt man in den Ampel-Fraktionen keine Juristen, sondern Gesundheitsexperten, hört man Kritik. Die künftigen Koalitionäre hätten sich dem Thema zu lange vor allem „formal-juristisch“ angenähert und weniger von der medizinischen Seite, heißt es zumindest hinter vorgehaltener Hand. Insbesondere die FDP musste demnach wohl einen langen Weg gehen vom „Freedom Day“ hin zu verschärften Maßnahmen wie 3G-Regeln am Arbeitsplatz und in Bussen und Bahnen.
Bei den Verhandlern sieht man das anders. Auch die infektiologische Perspektive sei berücksichtigt worden, das betonte etwa die Grünen-Rechtsexpertin Manuela Rottmann gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio. Unter den Sachverständigen, die etwa in einer öffentlichen Anhörung im Hauptausschuss des Bundestages geladen waren, befanden sich sowohl Rechtsexperten als auch Vertreter der Intensivmedizin und Virologen.
4. Waren die Abstimmungen zwischen den Ampel-Parteien und der geschäftsführenden Bundesregierung das Problem?
Das lässt sich in allen Details schwer rekonstruieren. Spahn hat den Ampel-Parteien in einem Brief mögliche Wege für eine rechtliche Neuregelung aufgezeigt. Sein Ministerium hat auch geholfen, das Gesetz zu formulieren. Auf Anfrage verweist das Ministerium darauf, dass man regelmäßig auf Arbeits- und Leitungsebene in Kontakt gestanden habe. Zu Details der Treffen wollte sich ein Sprecher auf Nachfrage nicht äußern. Die Grünen-Politikerin Rottmann verweist darauf, dass die Abstimmungsprozesse mit der Noch-Regierung „intensiv, aber zäh“ gewesen seien, auch weil noch andere Ressorts, wie zum Beispiel das Arbeitsministerium beteiligt gewesen seien.
5. Fehlte es dem geschäftsführenden Gesundheitsminister Spahn an Akzeptanz in den eigenen Reihen?
Die künftigen Ampelkoalitionäre hatten früh einen Mitstreiter auf der Regierungsseite. Denn auch Gesundheitsminister Spahn war für ein Ende der epidemischen Notlage. Allerdings kommunizierte er das schlecht und vermittelte so den Eindruck, dass damit auch die Pandemie bald vorbei sei.
Trotz Gegenwind aus den eigenen Reihen hielt Spahn bis zuletzt an seiner Position fest. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios hat er sogar in der entscheidenden Sitzung der Unionsfraktion in der vergangenen Woche noch dafür geworben, der Neuregelung der künftigen Regierungsfraktionen zuzustimmen. Ohne Erfolg, denn CDU und CSU wollten offenbar erstmals ihre künftige Oppositionsrolle ausprobieren und das „Ampel-Gesetz“ im Bundesrat blockieren. Das ist aber vor allem daran gescheitert, dass sich die Unionsministerpräsidenten letztlich auf keine einheitliche Linie einigen konnten.
6. Kommen nun alle Maßnahmen viel zu spät?
Während sich die Situation auf den Intensivstationen verschärfte, wurde in Berlin wenig konkret gehandelt und stattdessen um Gesetzestexte verhandelt. Die Bundeskanzlerin zeigte sich zwar besorgt, hielt sich öffentlich aber lange Zeit zurück. Das Corona-Kabinett tagte nicht mehr und auch vom künftigen Kanzler Olaf Scholz war wenig bis gar nichts zu hören. Das Virus interessierte das daraus resultierende Machtvakuum nicht, die Infektionszahlen stiegen.
Und auch die Ministerpräsidenten der besonders betroffenen Länder blieben lange Zeit weitgehend untätig. Obwohl die „epidemische Notlage“ noch galt, verhängten Söder, Michael Kretschmer und Co. keine wirklich verschärften Maßnahmen. Im Kampf gegen die Pandemie vergingen so wichtige Tage und Wochen. In der FDP vermutet man, dass die Unionsministerpräsidenten nicht am Pranger stehen wollten, weil in ihren Bundesländern die Impfquote niedrig und das Infektionsgeschehen hoch ist. Erst nachdem Bundestag, Ministerpräsidentenkonferenz und Bundesrat getagt hatten, wurden Söder und Kretschmer wirklich aktiv.
Das geänderte Infektionsschutzgesetz mit dem Instrumentenkatalog sei ein Anfang, betonten die Verhandler immer wieder. Am Ende wurde kurz vor der Bundestagsabstimmung nachgeschärft. Das Paket soll nun „evaluiert“ werden, spätestens zur nächsten geplanten Ministerkonferenz Anfang Dezember. Möglicherweise wird es dann noch einmal strengere Regeln geben, je nach Entwicklung der Infektionslage.