Wer liefert welche Waffen an die Ukraine?
12. Februar 202202/12/2022 16:38:36
Deutschland lehnt Waffenlieferungen in die Ukraine ab. Doch angesichts der russischen Bedrohung haben andere NATO-Länder bereits tausende Tonnen an Waffen und Munition nach Kiew geschickt.
Fast täglich postet der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow zur Zeit neue Bilder auf seinem Twitter-Account. Sie zeigen stets große Transportflugzeuge, vollgestopft mit tonnenschweren Kisten. In den Kisten sind Waffen und Munition, die einige NATO-Länder, allen voran die USA und Großbritannien, in die Ukraine schicken.
Damit soll die Ukraine angesichts der Bedrohung durch den massiven russischen Truppenaufmarsch an ihrer Grenze gestärkt werden. Laut ukrainischer Regierung haben die westlichen Partner Kiew bereits 1,5 Milliarden US-Dollar an militärischer Hilfe zur Verfügung gestellt. Deutschland lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine bislang ab.
Javelin und NLAW: Panzerabwehrraketen aus den USA und Großbritannien
In den Kisten, die Resnikow auf Twitter begrüßt, befinden sich unter anderem Raketen vom Typ Javelin und NLAW. Im Rahmen des gerade begonnen ukrainischen Manövers „Schneesturm 2022“ werden viele ukrainische Soldaten wohl zum ersten Mal diese frisch gelieferten Panzerabwehrwaffen schultern. Von der Schulter abgefeuert, steuern die Ein-Mann-Raketen selbst in ein zuvor erfasstes Ziel. Durch ihre geringe Größe und das geringe Gewicht sind diese Waffen sehr mobil.
Bereits seit 2019 stellen die USA der Ukraine Javelin-Raketen zur Verfügung. Angaben über die genaue Anzahl gehen auseinander, doch allein seit Herbst 2021 dürften Hunderte der Raketen in die Ukraine geliefert worden sein. Die US-Regierung hat nun zudem den baltischen Staaten die Erlaubnis erteilt, Javelin-Raketen aus ihren Beständen an die Ukraine weiterzugeben.
„Wir brauchen noch mehr davon“
Javelin, Englisch für Speer, gilt als modernste Panzerabwehrwaffe der Welt. Sie kann Ziele wie gepanzerte Fahrzeuge oder Bunker aus mehr als 2000 Metern bekämpfen. Dabei kann Javelin auch schwere Panzer zerstören, da sie deren schwächer gepanzerte Oberseite angreift. Dies gilt auch für die ähnlich funktionierenden NLAW-Raketen aus britischen Beständen, die jedoch über eine geringere Reichweite verfügen. London hat der Ukraine zuletzt etwa 2000 NLAW-Raketen bereitgestellt.
„Diese Systeme sind genau das, was wir am dringendsten brauchen“, sagt Mykola Bielieskov vom Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew, einer Einrichtung, die den ukrainischen Präsidenten in Sicherheitsfragen berät. „Sie lassen sich sehr leicht in unser Armee-Arsenal integrieren, Soldaten können sehr schnell lernen, wie man sie abfeuert,“ so Bielieskov im Gespräch mit der DW. „Im Fall eines russischen Angriffs wäre ihr massenhafter Einsatz sehr effektiv. Deshalb brauchen wir noch mehr davon.“
Russische Luftüberlegenheit
Die russische Armee ist der ukrainischen insbesondere in der Luft klar überlegen. „Im Falle eines Angriffs könnten die Russen innerhalb von zwei bis drei Tagen die Luftherrschaft erlangen, indem sie die ukrainische Luftwaffe komplett ausschalten und die Luftabwehr niederkämpfen“, sagt Gustav Gressel, Experte für Sicherheitspolitik am European Council on Foreign Relations in Berlin. Denn Russland verfüge nicht nur über sehr viel mehr Flugzeuge als die Ukraine. Die russischen Streitkräfte könnten auch den Funk der ukrainischen Flugzeuge und der Flugabwehr überwachen, da es sich um Technik aus sowjetischer Produktion handele. Zudem hätten die ukrainischen Piloten weniger Flugstunden absolviert als die russischen, da die Maschinen aufgrund von Ersatzteilmangel geschont würden.
„All das macht die russische Luftwaffe überlegen“, so Gressel zur DW. „Und wenn sie einmal Luftherrschaft hat, dann hat sie freies Spiel, die Bodenkräfte anzugreifen. Dann kann sie auch Drohnen im ukrainischen Luftraum einsetzen, um ukrainische Verbände zu orten, und Artillerieschläge auf diese anzuordnen. So kann man dann einen Gegner schon zermürben, bevor man mit ihm eigentlich ins Gefecht geht.“
Stinger und GROM: Flugabwehrraketen aus den USA und Polen
Aus ukrainischer Sicht ist deshalb eine Aufrüstung der Flugabwehr besonders entscheidend. Doch das sei kurzfristig kaum möglich, sagt Gressel. „Wenn ich den Ukrainern komplexere Luftabwehrraketen in den Garten stellen würde, etwa das System Patriot oder zum Beispiel die deutsche IRIS-T SL, dann wäre das natürlich eine echte Verstärkung.“ Doch das Training an solchen Systemen brauche viel Zeit. „Da brauche ich mehrere Monate Vorlauf, bis ich dieses Gerät wirklich erfolgreich in der Ukraine betreiben kann. Und mehrere Monate haben wir halt nicht.“
Deshalb liegt auch hier der Fokus nun auf tragbaren Ein-Mann-Raketen. Aus Litauen würden in den nächsten Tagen US-amerikanische Stinger-Raketen an die Ukraine geliefert, kündigte Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte am Donnerstag an. Zudem liefert Polen mit der GROM eine ähnliche hitzegelenkte Waffe an Kiew, die Flugzeuge aus bis zu drei Kilometern Entfernung bekämpfen kann. Da die ukrainische Armee bereits ähnliche Waffen in ihrem Arsenal hat, dürfte der Trainingsaufwand für GROM und Stinger gering sein.
„Diese Ein-Mann-Raketen sind sehr nützlich, weil sie russische Luftangriffe weniger effektiv machen“, sagt Mykola Bielieskov vom ukrainischen Nationalen Institut für Strategische Studien. „Setzt man sie in großer Zahl ein, dann kann man sicher nicht jeden russischen Jet und Helikopter abschießen. Aber Russland müsste einen höheren Preis für einen Angriff bezahlen.“
Bayraktar: Drohnen aus der Türkei
Die Ukraine hat in den vergangenen Jahren mindestens 20 Drohnen vom Typ Bayraktar TB2 beim NATO-Land Türkei gekauft. Die unbemannten Flugzeuge können mit Motoren aus ukrainischer Produktion ausgestattet werden. Die Ukraine hat zudem eine Lizenz erworben, um selbst Bayraktar-Drohnen herzustellen. Den Bau einer entsprechenden Fabrik kündigte Verteidigungsminister Resnikow vergangene Woche an.
Die türkische Bayraktar kann zur Aufklärung eingesetzt werden, aber auch mit lasergelenkten Bomben und Raketen ausgestattet werden. Ende Oktober zerstörte eine Bayraktar der ukrainischen Armee erstmals ein Artilleriegeschütz prorussischer Separatisten im Osten des Landes.
Drohnen bieten auch militärisch unterlegenen Armeen die Möglichkeit, einem stärkeren Gegner empfindliche Verluste beizubringen. Im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien im Jahr 2020 hatte sich gezeigt, dass Luftabwehrsysteme aus sowjetischer Zeit gegen moderne Drohnen wie die Bayraktar weitgehend wirkungslos sind. Ob dies auch für neuere russische Boden-Luft-Abwehrsysteme wie die Panzir S1, ist jedoch umstritten.
Bayraktar-Drohnen sollen laut ukrainischem Verteidigungsministerium auch beim aktuell laufenden Militärmanöver „Schneesturm 2022“ eingesetzt werden.
Munition: Polen, Tschechien und andere Staaten
In den Kisten, die aktuell mit Transportflugzeugen am Flughafen Kiew landen, befindet sich neben Ein-Mann-Raketen und Schutzausrüstung wie Helmen und Schutzwesten überwiegend Munition. Sie ist für die Gewehre und Artillerie-Geschütze der ukrainischen Armee bestimmt. Die Munition stammt unter anderem aus Tschechien und aus Polen, einem Land, das sich ebenfalls durch Russland bedroht sieht und schon seit Jahren Waffen an die Ukraine abgibt.
Seit 2014 haben laut dem Stockholmer Friedensinstitut SIPRI neben den bislang genannten Staaten auch die NATO-Länder Kanada und Frankreich Waffen an die Ukraine geliefert. In den vergangenen Wochen haben insbesondere die Lieferungen aus Großbritannien und den USA stark zugenommen. Allein aus den USA sind laut Verteidigungsminister Resnikow bereits 1300 Tonnen Waffen in die Ukraine verschickt worden.
Keine deutschen Waffen im Krisengebiet
„Am militärischen Kalkül des russischen Präsidenten wird das wenig ändern“, sagt Sicherheitsexperte Gressel. „Aber politisch könnte es schon etwas bewirken. Russland muss ja auch mit Sanktionen rechnen im Falle eines Angriffs. Und die Glaubwürdigkeit von Sanktionsdrohungen wird mit den Waffenlieferungen unterstrichen.“ Denn ein Parlament, das eine Waffenlieferung beschließe, hätte wohl auch kein Problem damit, im Ernstfall Sanktionen zu beschließen. „Insofern ist die wachsende Zahl von europäischen Staaten, die der Ukraine Waffen liefern, und sei es nur alte Artilleriemunition, für Moskau auch ein politisches Zeichen.“
Dass die deutsche Regierung sich dem nicht anschließen wolle und etwa die estnische Lieferung von neun Haubitzen aus DDR-Beständen an die Ukraine behindere, sei „unlogisch“, sagt Mykola Bielieskov vom Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew. Man werde dies in Kiew in Erinnerung behalten. Die Bundesregierung verweist darauf, dass Deutschland generell keine Waffen in Krisenregionen schicke.
Autor: Peter Hille