Inzidenz sinkt den 5. Tag in Folge: Omikron-Höhepunkt überschritten? Das sagen Experten zu Lauterbachs Hammer-Aussage

Inzidenz sinkt den 5. Tag in Folge: Omikron-Höhepunkt überschritten? Das sagen Experten zu Lauterbachs Hammer-Aussage

15. Februar 2022 Aus Von MVP-WEB Team

Seit einigen Tagen meldet das RKI sinkende Inzidenz-Werte. Gesundheitsminsiter Lauterbach erklärte nun, wir hätten den Höhepunkt der Omikron-Welle überschritten. FOCUS Online hat bei Epidemiologe Timo Ulrichs und Mathematiker Kristan Schneider nachgefragt, ob das die lang ersehnte Trendwende ist.

Nach einem wochenlangen Anstieg der Corona-Infektionszahlen meldete das Robert-Koch-Institut am Freitag einen niedrigeren Wert als noch am Vortag – das erste Mal seit Dezember. Und der Trend scheint sich fortzusetzen. Auch in den darauffolgenden Tagen verzeichnet das RKI sinkende Werte. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagte der „Bild“ sogar am Dienstag: „Der Höhepunkt der Omikron-Welle ist überschritten.“

Aber ist das wirklich schon die lang ersehnte Trendwende, die Experten für die Omikron-Welle prognostiziert hatten? FOCUS Online hat bei zwei Daten-Profis nachgefragt.

Inzidenz und R-Wert in Deutschland sinken

Den bisherigen Höhepunkt der Inzidenz meldete das Robert-Koch-Institut am Donnerstag mit 1580,4. Dieser Wert gibt an, wie viele Menschen sich pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen infizierten. Zwar gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern nahm die Inzidenz weiter zu. Der bundesweite Durchschnitt sinkt allerdings seit Freitag. So lag die bundesweite Inzidenz

  • am Freitag bei 1565,4
  • am Samstag bei 1539,4
  • am Sonntag bei 1501,6
  • am Montag bei 1459,8 und
  • am Dienstag bei 1437,5.

Ist das schon die Trendwende?

Bedeutet diese stetige Abnahme, wir haben den Höhepunkt der Omikron-Welle überschritten? „Das ist schwer einzuschätzen“, sagt Mathematiker Kristan Schneider. Momentan sei der Anteil an positiven Tests sehr hoch. „Irgendwann erreicht man das Limit der täglich diagnostizierbaren Neuinfektionen“, betont er.


Zur Person

Kristan Schneider ist ein österreichischer Mathematiker der Angewandten Mathematik mit dem Forschungsschwerpunkt Modellierung epidemiologischer Prozesse. Seit vielen Jahren forscht er an Infektionskrankheiten, etwa Malaria. Seit Beginn der Corona-Pandemie widmet er sich Sars-CoV-2 in seinen Prognosen. Schneider lehrt Statistik und Mathematik an der Hochschule Mittweida.


Zuversichtlicher ist hingegen Epidemiolge Timo Ulrichs. Für eine tatsächliche Trendwende sprechen ihm zufolge „immer mehr epidemiologische Hinweise“. Die Abnahme der Neuinfiziertenzahlen in einigen Bundesländern könne nicht mehr durch ausgelastete Testkapazitäten erklärt werden. „Außerdem treten sie dort auf, wo in den vergangenen Wochen die höchste Ausbreitungsdynamik zu sehen war: in den größeren Städten“, betont der Experte für Infektionsepidemiologie.


Zur Person

Timo Ulrichs ist Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologe. Er arbeitet am Institut für globale Gesundheit als Studiengangsleiter für internationale Not- und Katastrophenhilfe. Außerdem war er als Referent am Bundesministerium für Gesundheit tätig und dort unter anderem zuständig für den Seuchenschutz und die Influenzapandemieplanung.


In einem Punkt sind sich beide Experten einig: Die Trendwende wird zeitversetzt in unterschiedlichen Regionen einsetzen. „Nach und nach werden auch die anderen Bundesländer den Peak der Ausbreitung erreichen und dann sinkende Fallzahlen sehen“, sagte etwa Ulrichs. „Es kann nicht mehr lange dauern“, sagte Schneider. „Wenn wir eine kontinuierliche Abnahme über ein bis zwei Wochen sehen, wissen wir, dass wir den Gipfel erreicht haben.“ Die Inzidenzen schlagen sich dem Mathematiker zufolge immer zeitversetzt in den Krankenhausbelegungen nieder. „Nachdem wir einen stetigen Rückgang der Neuinfektionen beobachten, werden wir auch das Maximum der Krankenhausauslastung erreicht haben.“

In diesen Ländern kam bereits die Trendwende

Deutschland hängt in seiner Entwicklung was die Infektionszahlen angeht anderen Ländern hinterher. So war etwa in Großbritannien bereits Anfang Januar ein deutlicher Abfall der Infektionszahlen zu beobachten. Mitte Januar folge die Trendwende in Spanien, in Israel dann Ende des Monats.

Experten warnen vor Gefahr durch zu frühes Öffnen

Allerdings dürfen wir laut den Experten hierzulande nicht davon ausgehen, dass der absteigende Teil der Omikron-Welle symmetrisch zum aufsteigenden Teil verläuft. „Das würde nur bei vergleichbaren Bedingungen erfolgen“, betont Epidemiologe Ulrichs. Würde zu schnell gelockert, könnte sich der Rückgang verlangsamen und die Welle verbreitern – und damit den Übergang in Frühling und Normalität verzögern.

„Zu frühes Öffnen bringt die Gefahr mit sich, dass die Infektionszahlen wieder steigen“, warnt auch Mathematiker Schneider. „Wir sahen in den letzten Wochen einen starken Anstieg der Infektionen bei Jugendlichen, weil Maßnahmen an Schulen nicht hinreichend gegen Omikron schützen.“ Damit war zwar zunächst nur eine Nicht-Risikogruppe stark betroffen. „Das startete aber Infektionsketten, die sich in der Gesamtbevölkerung weiterschleppen. Irgendwann erreichen diese Ketten auch die ungeimpften Senioren“, so der Mathematiker. Hier „schlummert die große Gefahr“, warnt er. Es wäre möglich, dass dann die Hospitalisierungen wieder ansteigen. „Die Pandemie wütet jetzt seit über zwei Jahren und so lange ist die Bevölkerung schon geduldig. Ich denke jetzt kommt es auf ein paar weitere Wochen nicht mehr an.“

Wie geht es im Frühling weiter?

„Wenn alles gut läuft, dann gehen die Neuinfiziertenzahlen schnell zurück, und im März werden sie so niedrig sein wie im vergangenen Frühling“, wagt Epidemiologe Ulrichs eine vorsichtige Prognose. „Aber wir sollten nicht die Augen davor verschließen, dass wir noch nicht in der endemischen Phase sind, dazu sind noch zu viele Menschen ohne Immunschutz in Deutschland“. Das bedeute, im Herbst werde sehr wahrscheinlich noch einmal eine hohe Welle komme. Um das zu vermeiden, sollte die Impfpflicht laut Ulrichs auch in Niedriginzidenzzeiten „nun wirklich beschlossen“ und im Sommer umgesetzt werden.

„Wenn der Pegelstand bei einer jährlichen Überschwemmung sinkt, sollte nicht daraus geschlossen werden, man müsse nicht in Hochwasserschutz investieren, weil ja nun das Wasser weg sei“, sagt er. „Vielmehr sollte endlich ein Damm gebaut werden, der das für den Herbst zu erwartende neue Hochwasser sicher verhindert.“