Zahl der Covid-19-Intensivpatienten wächst langsamer – das sagen Top-Mediziner dazu

11. November 2020 Aus Von mvp-web
Die deutschen Intensivstationen füllen sich infolge der vermehrten Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 weiter – aber langsamer als noch vor zwei Wochen befürchtet. Experten sehen dafür mehrere Gründe – Entwarnung geben sie allerdings nicht.

Deutschlands Intensivstationen sind derzeit zu etwa drei Viertel belegt (76 Prozent). Etwa zehn Prozent davon entfallen auf Patienten mit Covid-19. 3068 Menschen mit einer Corona-Infektion werden aktuell intensivmedizinisch in Deutschland betreut. Das sind sieben weniger als noch am Dienstag (3075). 1739 sind an Beatmungsgeräte angeschlossen – 15 weniger als am Vortag (1724).

Damit ist die Zahl der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen seit längerem erstmals wieder gesunken. Eine gute Nachricht!

Ebenfalls zweifelsohne eine gute Nachricht ist, dass die deutschen Intensivstationen sich generell langsamer mit Covid-19-Patienten füllen als befürchtet. Seit der Woche ab dem 26. Oktober nimmt der Anstieg der täglichen Neuaufnahmen von Covid-19-Patienten im Vergleich zur Vorwoche in der Tendenz ab. Das Gleiche gilt ab dem 2. November auch für das Wachstum der Gesamtzahl von Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen, wie das Science Media Center (SMC) berichtet.

So betrug der wöchentliche Anstieg bei der Zahl der belegten Intensivbetten durch Covid-19-Patienten am 26. Oktober noch rund 65 Prozent. Gestern – am 10. November – waren es noch rund 30 Prozent – Tendenz derzeit stark fallend.

Die positive Entwicklung könnte bereits auf das inzwischen ebenfalls gebremste Wachstum der täglichen Neuinfektionen zurückgehen. Allerdings gibt es noch weitere Gründe, die unter anderem auch einen erneuten Anstieg der Intensivpatienten-Zahlen möglich machen könnten, wie Experten erklären.

Noch zu früh, um Effekt zu sehen

„Insgesamt halte ich es noch für verfrüht, finale Schlüsse aus den kurzfristig sichtbaren rückläufigen Intensivbelegungszahlen für Covid-19-Patienten zu ziehen“, sagt Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin an der München Klinik Schwabing und behandelnder Arzt der ersten deutschen Covid-19-Patienten Clemens Wendtner.

„Einen Effekt der neuen Kontaktbeschränkungen in den leicht rückläufigen Wachstumszahlen der Intensivbelegungen zu sehen, halte ich noch für zu früh, da wir bei Covid-19 mit Erkrankungsbeginn circa drei bis vier Wochen Latenzzeit bis zur intensivmedizinischen Betreuung einrechnen müssen.“

Es bleibe zudem festzuhalten, dass lediglich die Zuwachsrate an intensivpflichtigen Covid-19-Patienten im Tagesverlauf ein wenig abnehme, erklärt Wendtner. Absolut betrachtet registriere man aber weiterhin einen Anstieg der Patienten auf den Intensivstationen.

Zwei Zahlen müssen betrachtet werden

Das erklärt auch Reinhard Busse. „Bei den Angaben im Divi-Tagesreport muss zwischen zwei Zahlen unterschieden werden: Es gibt Angaben dazu, wie viele Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen (ITS) täglich neu aufgenommen werden. Ein zweiter Wert zeigt, wie sich die Gesamtzahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen entwickelt. Er wird berechnet, indem von der Zahl der Neuaufgenommenen die Zahl der Entlassenen abgezogen wird“, erläutert der Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin.

Sehe man sich die erste Zahl an – die tägliche Neuaufnahme von Covid-19-Patienten – nehme der absolute Wert momentan immer noch leicht zu. Die Gesamtzahl der Intensivpatienten wachse hingegen langsamer, weil es „inzwischen auch schon wieder Entlassungen gibt. Das war beim initialen Anstieg der Patientenzahlen auf Intensivstationen anders, da es noch kaum zu entlassende Patienten gab“, gibt Busse zu Bedenken.

Ein Blick auf die Normalstationen zeigt laut Clemens Wendtner darüber hinaus noch keine Trendwende, „dort steigen die Zahlen der zu versorgenden Patienten kontinuierlich an.“ Allerdings weiß der Chefarzt auch Positives zu berichten: „Die Patienten kommen zum Teil mit früh diagnostizierten Covid-19-Symptomen, sodass bei entsprechender Behandlung auch ein Intensivaufenthalt verhindert werden kann. Auch scheint die Wechselzeit auf Intensivstationen aufgrund der besseren medizinischen Versorgung, wozu verfeinerte Beatmungstechniken, aber auch die Gabe von Dexamethason zählen, bei einzelnen Patienten verkürzt zu sein.“

Diese Beobachtung hat auch Matthias Kochanek, Leiter der internistischen Intensivmedizin der Uniklinik Köln, gemacht: „Ich habe den Eindruck, dass wir an der Uniklinik Köln im Gegensatz zur ersten Welle deutlich mehr Fälle auf der Normalstation haben. Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass die Zeit von der Infektion bis zur Intensivstation etwas kürzer ist als im Frühjahr. Mit dem Wirkstoff Dexamethason habe ich zudem den Eindruck, dass die Zeit auf der Intensivstation etwas verkürzt ist. Aber es ist sicher zu früh, aus den aktuellen Zahlen sichere Schlüsse zu ziehen.“

Patienten mit sehr hohem Alter werden zum Teil palliativmedizinisch versorgt

Dafür, dass die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Patienten nicht so schnell steigt, nennt Clemens Wendtner zudem einen weiteren Grund: Die Therapie werde in manchen Fällen bewusst angepasst. Wendtner erklärt, dass „aufgrund des zum Teil sehr hohen Alters der Patienten mit über 80 Jahren mit starken Komorbiditäten nicht mehr alle Patienten intensivmedizinisch versorgt werden“ – und stattdessen eine palliativmedizinische Versorgung gewählt werde.

Sollten also mehr jüngere Patienten wieder in die Klinken kommen und intensivmedizinisch versorgt werden müssen, könne sich das Problem der begrenzten Intensivkapazitäten erneut verschärfen.

„Die europäischen Nachbarländer sollten uns eine Warnung sein: Bei ihnen kam es auch zu Beginn nur zu einer langsamen Belegung der Intensivkapazitäten im Spätsommer, bevor das System hinsichtlich der Intensivbetten nunmehr im November überlastet erscheint. Patienten müssen derzeit innerhalb dieser Länder in Regionen mit weniger Covid-19-Belastung oder aber ins europäische Ausland verlegt werden“, sagt der Mediziner aus München. Für eine Entwarnung sei es in Deutschland leider noch zu früh.

Das sieht auch Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen so: „Aus Sicht der Modellierung ist die Datenlage aktuell noch zu unsicher, um eine klare Aussage zu treffen. Schwankungen der Wachstumsraten der Intensivfälle gab es in den vergangenen Wochen immer wieder. Insofern sollte man noch ein bis zwei Wochen abwarten, bevor belastbare Rückschlüsse gezogen werden können.“