Situation in Kiew „Die nächsten Tage können wir noch schaffen“
25. Februar 2022„Für die Ukraine geht es in den nächsten Tagen um die nationale Existenz“, sagt der Kiewer Analyst Mykola Bielieskov im Interview. Er beschreibt die militärische Situation in der Hauptstadt und den ukrainischen Ruf nach Waffenlieferungen.
tagesschau.de: Herr Bielieskov, wie haben Sie die Nacht und den heutigen Morgen in Kiew verbracht?
Mykola Bielieskov: Die Nacht war furchtbar. Ich lebe nur ein paar Blocks von der Stelle im Stadtviertel Darnyzja entfernt, in die ein Raketengeschoss einschlug und wo Feuer ausbrach. Ich habe drei Stunden geschlafen und bin dadurch aufgewacht. Es war eine furchtbare Nacht für die gesamte Ukraine. Aber während die ukrainischen Streitkräfte gegen den Vormarsch von allen Seiten kämpfen, ist Kiew noch immer sicher, die Luftabwehr arbeitet noch.
Mykola Bielieskov ist Analyst beim staatlichen ukrainischen „National Institute for Strategic Studies“ in Kiew. Zuvor arbeitete er beim Institute of World Policy und der Politik-Nachrichtenseite glavcom.ua.
tagesschau.de: Es gibt also noch keine zivilen Opfer in Kiew, soweit sich das feststellen lässt?
Bielieskov: Soweit ich das mitbekommen habe, arbeiten alle Sicherheitsorgane und Zivilschutz-Institutionen wie die Feuerwehr noch funktional – auch, als das Feuer ausbrach und ein Kampfflugzeug über Kiew abgeschossen wurde. Es gab Verletzte, aber keine toten Zivilisten, soweit ich das den Informationen entnehme, die mir zur Verfügung stehen.
Vor meinem Fenster sehe ich zwei Kinder über den Hof rennen, die spielen und sich des Lebens freuen. Und wenn ich nach den Fenstern gehe, in denen gestern Nacht Licht brannte, sind noch viele Menschen in ihren Häusern geblieben. Ein Teil der Bevölkerung hat sich gestern entschieden, die Stadt zu verlassen oder die Nacht in den U-Bahn-Schächten zu verbringen. Im Verhältnis zu anderen Gegenden in Kiew ist es in dieser Region im Südosten verhältnismäßig friedlich.
Übernachtung in der Metro – „Massenphänomen“
tagesschau.de: Bilder von Menschen, die in U-Bahn-Schächten in Kiew und Charkiw Zuflucht suchen, verbreiteten sich am Donnerstag in sozialen Netzwerken. Ist das tatsächlich ein Massenphänomen?
Bielieskov: Soweit ich das mitbekomme – ich kann es auch nur den Berichten und Mitteilungen der Leute entnehmen – ist es ein Massenphänomen. Es ist gut, dass Kiew und Charkiw diese Möglichkeit zum Zivilschutz bereitstellen, denn beide Städte werden laufend beschossen und die Menschen mit Kindern brauchen ja Unterkunft, um das Kostbarste zu beschützen, das wir haben.
tagesschau.de: Sie haben die letzten 24 Stunden vor allem mit der Analyse der Situation und Berichten verbracht. Haben Sie in ihrem Umfeld mitbekommen, ob es irgendwo Versorgungsengpässe gibt?
Bielieskov: Ich kann die Versorgungslage nicht einschätzen. Ich habe nur Berichte von Supermärkten gesehen, die einen Überschuss von Vorräten präsentierten – es gibt bislang kaum Bilder von Menschen, die massenhaft vor Läden oder Geldautomaten Schlange stehen würden. Bislang sind Nachschublieferungen auch weiterhin möglich, sodass es keine Lebensmittel- oder Medikamentenknappheit gibt.
„Die nächsten Tage können wir noch schaffen“
tagesschau.de: Inzwischen hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Mobilmachung befohlen, Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht mehr verlassen. Wie hat sich militärische Lage der Ukraine in der Nacht verändert?
Bielieskov: Die Lage ist unter Kontrolle, würde ich sagen. Seit gestern greift Russland von drei Seiten Kiew an – die russischen Truppen konnten teils vorrücken, aber wurden auch gestoppt. Die ukrainischen Streitkräfte haben in hohem Ausmaß Panzerabwehrlenkwaffen aus eigener Produktion und aus den von den USA und Großbritannien gelieferten Beständen eingesetzt. Die ukrainische Artillerie funktioniert – jedenfalls gibt es sehr viele Aufnahmen von Schäden, die sie der russischen Artillerie zugefügt hat. Die russischen Truppen konzentrieren sich auf die Hauptverkehrsstraßen – eine andere Möglichkeit haben sie nicht, denn in den Nebenstraßen können sie sich im Schlamm nur schwer vorwärtsbewegen und gestoppt werden.
Die Streitkräfte, Nationalgarde, Grenzschutz, Geheimdienste – sie alle versuchen, kostbare Zeit für die Mobilmachung zu gewinnen. Was wir haben, ist „manpower“: Die Bevölkerung ist in weiten Teilen bereit zu kämpfen und auch ihr Leben zu lassen – für sie ist es ein Krieg um die Existenz als Nation. Aber wir brauchen westliche Lieferungen von Panzerabwehrlenkwaffen, Kommunikationssystemen und anderen Systemen aus dem Westen. Die nächsten Tage können wir noch schaffen, aber dann würden wir Nachschub benötigen.
tagesschau.de: Welche Bedeutung haben für die Ukraine die Sanktionen gegen Russland, die die USA, Großbritannien und die EU auf den Weg gebracht haben?
Bielieskov: Mit den Sanktionen gibt es zwei Schwierigkeiten: Erstens braucht es Wochen, bis sie wirklich eine große Wirkung auf die russische Wirtschaft haben – in der Ukraine geht es aber um wenige Tage. Zweitens sehe ich aus Wladimir Putins Erklärungen, dass er bereit ist, Sanktionen in Kauf zu nehmen und Russland schon darauf eingestellt hat. Schließlich ist da auch noch eine weitere Dimension: Man kann mit Sanktionen keine Panzer und Kampfflugzeuge zerstören. Wir brauchen Verteidigungsrüstung – zusammen mit den Sanktionen. Nur das ist effektiv. Für die Ukraine geht es in den nächsten Tagen um die nationale Existenz.
„Sie kontrollieren nichts als die Straßen“
tagesschau.de: Wie schätzen Sie die Verluste auf russischer Seite ein?
Bielieskov: Nach ukrainischen Hochrechnungen hat Russland in den ersten 24 Stunden des Angriffs etwa 800 Tote verbucht. Wenn wir die Verluste der Seite, die sich verteidigt, mit der, die angreift vergleichen, wären sie auf der Angreiferseite demnach doppelt bis drei Mal so hoch. Kein Regime – auch kein autoritär geführtes – kann dauerhaft so rapide Verluste hinnehmen. Wenn die Ukraine die Ausrüstung dazu hat, dann könnte sie die Verlustseite bis in die Tausende hochtreiben.
Es ist wichtig zu verstehen: Wenn Sie diese Karten mit Pfeilen sehen, auf denen russische Truppen eingezeichnet sind, entsteht der Eindruck, dass sie die Ukraine schon teilweise kontrollieren. Sie kontrollieren nichts als die Straßen, auf denen sie vorrücken – aber bislang keine ukrainischen Städte. Vor den Städten haben sie Angst, denn sie wissen, wie feindlich die Bevölkerung ihnen gesinnt ist.
Auch bei der Okkupation von Tschernobyl ging es für Russland in erster Linie darum, auf kürzestem Weg vorzurücken. Es ist eine Sache, sich von Schitomyr aus nach Kiew zu bewegen – aber eine ganz andere, sich durch diese Sicherheitszone zu bewegen. Das Strahlungsniveau aus der Zone hat offenbar zugenommen – vielleicht stellen sie also etwas Unkluges mit dem Sarkophag über der Reaktorruine an… das hätte schlimme ökologische Folgen für ganz Europa. Der Westen sollte da also wachsam sein.
tagesschau.de: Haben Sie einen Ausweg geplant für den Fall, dass russische Truppen nach Kiew vordringen, die Stadt womöglich einnehmen?
Bielieskov: Ich habe keinen Fluchtplan – für jemanden wie mich gibt es keinen, mit meiner beruflichen Aufgabe und meinen Überzeugungen. Ich wäre dann einer von denen, die mutmaßlich verfolgt würden.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de.