Epidemiologien zu Corona: „Wir werden nie wieder 2019 haben“
24. März 2022Die Inzidenz liegt bundesweit bei rund 1.700, die Zahl der Covid-Intensivpatienten ist zuletzt gestiegen. Gleichzeitig werden Corona-Maßnahmen gelockert. Die Epidemiologien Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig schätzt die Lage im Interview ein.
Rekordinzidenzen und Lockerungen – passt das für Sie zusammen?
Berit Lange: Wenn das Ziel ist, eine Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden, dann kommen wir vermutlich auch mit den Lockerungen durch diese Welle. Nach allem, was ich bisher gesehen habe, ist nicht zu erwarten, dass wir während dieses zweiten Omikron-Peaks eine ganz starke Belastung der Intensivstationen bekommen. Was wir aber schon bekommen, ist eine sehr deutliche Belastung der Normalstationen und Arztpraxen. Zum einen durch die Anzahl der Patienten, aber auch ganz stark durch den Personalausfall. Und diese Belastung ebenso wie zusätzliche Todesfälle durch Covid-19 könnte man natürlich reduzieren, wenn man nicht kurz vor dem Peak der Welle große Lockerungen macht.
Das klingt, als würden Sie das neue Infektionsschutzgesetz nicht für besonders sinnvoll halten.
Lange: Ich finde, man merkt dem Gesetz an, dass es nur für sehr begrenzte Zeit, nämlich bis September, gedacht ist. Man kann so ein Gesetz für vier Monate machen – es ist aber meines Erachtens eine Notlösung. Es ist kein Gesetz, das uns weitsichtig durch den nächsten Herbst oder die Zeit danach hilft.
Was macht es zu einer Notlösung?
Lange: Die Hotspot-Regelung ist sehr schwammig und Basisschutzmaßnahmen wie die Maskenpflicht fehlen in vielen Bereichen. Dass die Arbeitsschutzmaßnahmen nun wieder komplett bei den Arbeitgebern liegen, finde ich ebenfalls schwierig. Die vergangenen Jahre haben meines Erachtens gezeigt, dass es hier einige bundesweite Regelungen braucht, auch wenn viele Arbeitgeber sehr vorsichtig sind. Auch hätte ich mir gewünscht, dass klarer formuliert wird, an welchen Parametern und Grenzwerten Maßnahmen ausgerichtet werden sollen. Schließlich haben wir in diesen Dingen mittlerweile zwei Jahre Erfahrung.
Aber ist es nicht grundsätzlich sinnvoll, Maßnahmen an der regionalen Infektionslage auszurichten, wie es das Infektionsschutzgesetz vorsieht?
Lange: Doch, absolut. Aber die Maßnahmen, die in den Hotspots möglich sind, können lediglich kleinere Infektionswellen abfedern. In dem Moment, wo zum Beispiel eine neue Variante auftritt, vor der die Impfung weniger gut schützt oder die zu deutlich mehr schweren Verläufen führt als Omikron, hätten wir vermutlich sehr große Probleme mit den aktuellen Hotspot-Regelungen Überlastungen des Gesundheitssystems zu verhindern.
Viele Menschen fragen sich vermutlich, wann endlich dieser gefühlte Ausnahmezustand der Pandemie vorbei ist und die neue Normalität beginnt. Wagen Sie eine Prognose?
Lange: Ich glaube, man muss sich wirklich klarmachen, dass wir nie wieder 2019 haben werden. Wir haben jetzt eine neue Infektionskrankheit, bei der wir saisonal immer wieder hohe Infektionswellen sehen werden. Wie hoch diese Wellen zu welchen Zeitpunkten sein werden, lässt sich noch nicht abschätzen. Denn wir wissen noch nicht, wie viele Menschen sich regelmäßig impfen lassen werden und wie gut langfristig jene geschützt sind, die nur eine gewisse Grundimmunität durch eine frühere Impfung oder Infektion haben.
Ist unser Gesundheitssystem auf diese Wellen vorbereitet?
Lange: Im Gesundheitssystem war die Belastung zu den großen Grippewellen schon immer hoch. Ich bin zu solchen Zeiten als Ärztin in Notaufnahmen gewesen und mir ist auch deswegen klar, dass es Anpassungen des Gesundheitssystems braucht, wenn nun durch die Corona-Wellen eine zusätzliche saisonale Belastung hinzukommt. Das muss man jetzt gut vorbereiten.
Was gehört Ihrer Meinung nach dazu, die Kliniken entsprechend vorzubereiten?
Lange: Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass wir mehr Pflegekräfte haben, die auch langfristig bleiben, die bereit sind, diese Belastungen mitzumachen. Und man darf nicht gleich alle Ressourcen im Gesundheitssystem reduzieren, die nicht immer zu 100 Prozent ausgelastet sind. Das genau verhindert die notwendigen Anpassungen zu Zeiten hoher Belastung.
Was hat uns zur besseren Bekämpfung der Pandemie gefehlt – und fehlt uns vielleicht bis heute?
Lange: In meinem Bereich, der Infektionsepidemiologie, fehlte uns zum Beispiel eine schnell einsetzbare und adaptierbare Bevölkerungskohorte. Das heißt, eine der Gesamtbevölkerung möglichst ähnliche Gruppe von Menschen, die schnell im Rahmen von Studien untersucht oder befragt werden kann. Damit hätten sich bestimmte Fragestellungen rasch beantworten lassen, wie zum Beispiel: „Welche Gruppen sind gerade besonders vom Infektionsgeschehen betroffen?“, „Wie ist das Kontaktverhalten der Menschen aktuell?“ oder „Wie ist die Immunität in der Bevölkerung?“. Wir am HZI und auch andere in Deutschland haben zwar zum Teil sehr große bevölkerungsbasierte Studien zu solchen Fragen gemacht, aber wir konnten das nicht so schnell und einfach tun, wie es zum Beispiel in Großbritannien der Fall war. Denn für solche Studien braucht es eine vorbereitete Infrastruktur, bei der unterschiedlichste Institutionen zusammenarbeiten und das Vorgehen im Rahmen kleinerer Untersuchungen regelmäßig durchführen – zum Beispiel jeweils nach der Grippewelle.
Was hat Ihnen aus Sicht der Epidemiologin noch gefehlt?
Lange: Gerade am Anfang gab es keine zentrale Modellierungsplattform in Deutschland, wo Forschende zusammenkommen, miteinander sprechen, ihre Ergebnisse austauschen und voneinander lernen konnten. Das wird jetzt aufgebaut und daran sind wir auch beteiligt. Und es hat in der Pandemie ein weiteres wichtiges Instrument gefehlt, das relevant wäre.
Welches ist das?
Lange: Es fehlte an sogenannten Interventionsstudien für Maßnahmen auf Bevölkerungs- und Institutionsebene. Man hat beispielsweise – soweit ich weiß – nie systematisch den Unterschied zwischen Schulen untersucht, die Luftfilter in den Klassen hatten und solchen, wo das nicht der Fall war. Hätte man die Konzepte für solche Studien fertig in der Schublade gehabt und wäre der politische Wille, die Ressourcen und die Bereitschaft so etwas durchzuführen, dagewesen, dann hätte man die Konzepte auch relativ schnell rausholen und umsetzen können. Ich glaube, wir haben gelernt, dass man sich nicht allein auf ein gutes Gesundheitssystem verlassen kann. Man muss wirklich vorher Ressourcen in solche Infrastrukturen und Vorbereitungen stecken.
Was würden Sie sich noch wünschen als Vorbereitung auf eventuelle weitere Pandemien?
Lange: Es ist wichtig, die Pandemiepläne von früher mit den aktuellen Erfahrungen zu vergleichen und zu ergänzen. Jetzt haben wir die Praxiserfahrung zum Beispiel im Bildungsbereich, der sicher in Pandemieplänen der Bildungsbehörden von früher nicht im Detail durchdacht war. Das aufzuarbeiten mit den Menschen, die erlebt haben, was passiert ist, ist, glaube ich, eine wichtige Aufgabe.