Richter kippt Corona-Verbote: “Haben den Menschen ein Stück Freiheit zurückgegeben“

30. April 2020 Aus Von mvp-web

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat die strengen Corona-Regelungen der Politik gekippt und den Menschen wieder mehr Freiräume gegeben. Auf FOCUS Online erklärt der Richter Roland Rixecker sein deutschlandweit viel beachtetes Urteil.

Dabei sendet er eine klare Botschaft an Staat und Politik, die immer tiefer in die Grundrechte der Bürger eingreifen – nicht nur wegen Corona.

Das Urteil ist 18 Seiten lang, ganz oben steht in Großbuchstaben „Beschluss im Namen des Volkes“.

Millionen Deutsche haben sehnlichst auf eine solche Gerichtsentscheidung gewartet. Nicht nur im Saarland, wo es die Bürger direkt betrifft. Im gesamten Bundesgebiet leiden immer mehr Menschen unter den scharfen Corona-Regeln, die der Staat ihnen auferlegt hat. Vielen anderen können die Schutzmaßnahmen gar nicht weit genug gehen. Sie dürften das Urteil mit Unbehagen aufnehmen.

Staat darf Grundrechte nicht grenzenlos einschränken

Mit deutlichen Worten hat der Verfassungsgerichtshof (VerfGH) des Saarlandes die im kleinsten deutschen Flächenland geltenden Corona-Regelungen gekippt – und damit der Politik ein klares Stoppsignal gesetzt. Selbst in Extremlagen wie der Corona-Pandemie dürfe der Staat die Grundrechte der Bürger nicht grenzenlos einschränken, so das Gericht.

„Wir haben den Menschen ein Stück Freiheit zurückgegeben“, sagte der Präsident des saarländischen Verfassungsgerichtshofs, Roland Rixecker, an diesem Freitag im Exklusivgespräch mit FOCUS Online. „Wir haben ihnen wieder Mut gemacht.“

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Richter: “Nicht der Bürger muss sich rechtfertigen…”

Zwar entfalte das Urteil keine unmittelbare Wirkung auf andere Bundesländer. Dennoch würden „grundsätzliche Fragen behandelt, die für ganz Deutschland enorm wichtig sind“, erklärte der 68-jährige Professor. So habe das Gericht klargestellt: „Nicht der Bürger muss sich rechtfertigen, warum er ein Grundrecht ausübt, sondern der Staat muss rechtfertigen, warum und für welche Dauer er in Grundrechte eingreift.“

Rixecker und seine sieben Richter-Kollegen haben am 28. April 2020 entschieden, dass die Menschen im Saarland ihre eigene Wohnung ab sofort auch ohne „triftigen Grund“ wieder verlassen dürfen. Außerdem können sie sich mit ihren Familien treffen und im Freien verweilen, solange das Abstandsgebot gewahrt bleibt.

Die Landesregierung wollte die harten Corona-Ausgangsbeschränkungen erst ab dem 4. Mai lockern. Das Gericht kam ihr nun zuvor.

Verfassungsbeschwerde: Recht auf “Freiheit der Person”

Mit der Entscheidung reagierte der VerfGH auf den Eilantrag eines saarländischen Bürgers. Herr H. hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt und eine einstweilige Anordnung gegen die Beschränkung beantragt. Er sah sich durch die strenge Corona-Verordnung in seinem Grundrecht der „Freiheit der Person“ verletzt. Damit ist das Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit gemeint.

Sorgte schon der Tenor des Entscheids bundesweit für Schlagzeilen, so dürfte die – weitgehend unbekannte – Urteilsbegründung erst recht Debatten über Sinn und Unsinn bestimmter Corona-Auflagen auslösen.

Urteil: Unklar, welche Maßnahmen wirklich helfen

In dem FOCUS Online vorliegenden Papier stellt das Gericht die bislang in Deutschland eingeleiteten Schritte zur Corona-Bekämpfung in Frage, zumindest meldet es Zweifel an. Selbst unter Virologen herrsche offenbar bis heute „Unklarheit, wie das Virus konkret wirkt und welche Maßnahmen auf welche konkrete Weise wirklich geeignet sind, seine Ausbreitung zu vermindern oder ihr entgegenzutreten“, heißt es im Urteil.

Weiteres Zitat: „Insgesamt kann in ganz Deutschland die befürchtete exponentielle Ausbreitung der Corona-Infektionen nicht festgestellt werden.“ Berücksichtige man außerdem das günstiger als befürchtet verlaufende Infektionsgeschehen, so könne man nur zu dem Fazit kommen: Die Ausgangsbeschränkungen als besonders einschneidende Maßnahme sind „nicht mehr erforderlich“.

Gericht: Freiheitsbeschränkungen nicht ausgleichbar

Klipp und klar stellt das saarländische Gericht fest, dass jeder Tag der Freiheitsbeschränkung „ein endgültiger Nachteil“ für die Betroffenen bedeute. „Er kann für die verstreichende Zeit nicht wieder ausgeglichen werden.“ Andererseits sei der „damit erzielte Gewinn an Gesundheitsschutz nicht nachvollziehbar dargelegt.“ Auf Deutsch: Das Gericht hält es nicht für erwiesen, dass Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung von Corona führen.

Dies untermauern die Richter in ihrem Urteil mit Fakten. Dort heißt es, neben dem Saarland habe nur noch Bayern eine vergleichbare Ausgangsbeschränkung eingeführt. Doch auch in den anderen 14 Bundesländern, die weniger rigoros vorgehen, sei es „weder zu einer exponentiellen Ausbreitung des Infektionsgeschehens, noch zu einer Überlastung des Gesundheitssystems gekommen“.

Kritik an Infektionszahlen der Behörden: “Aussageleer”

Kritisch wertet das Gericht auch die Infektionszahlen, die von den Gesundheitsbehörden täglich vermeldet werden und nach denen die Politik ihre Maßnahmen ausrichtet: „Absolute Zahlen einer Zunahme von Infektionen mit dem Sars-Cov2-Virus belegen nichts außer der Zunahme selbst. Sie sind – so dramatisch und tragisch Krankheitsverläufe im Einzelfall sind und so furchtbar der Tod eines jeden kranken Menschen ist – aussageleer“, heißt es im Urteil.

Zugleich kritisiert der Verfassungsgerichtshof die von der saarländischen Landesregierung ergriffenen Zwangsmaßnahmen als teilweise unlogisch. „Es leuchtet nicht ein, dass sich Geschwister in gebührendem Abstand in einem Möbelmarkt oder Baumarkt treffen dürfen, nicht aber in der eigenen Wohnung.“ An anderer Stelle heißt es: „Aus Anlass einer Bestattung wird das Zusammentreffen der Familie erlaubt, zu Lebzeiten indessen nicht. Das überzeugt nicht.“

Rixecker: “Beobachten, kontrollieren und rechtfertigen”

Gegenüber FOCUS Online sagte Richter Roland Rixecker, die Politik müsse alle Grundrechtseingriffe immer wieder „beobachten, kontrollieren und rechtfertigen“. Je länger die Freiheitsbeschränkungen andauerten, desto höher müssten die Anforderungen an ihre Rechtfertigung sein. Maßnahmen, die „in der Stunde der Not“ möglicherweise dringend geboten seien, müssten mit fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen „neu bewertet“ werden.

„Die Bürger akzeptieren selbst massive Einschränkungen, wenn sie Licht am Ende des Tunnels sehen. Wenn nicht, sinkt ihre Bereitschaft, sich an Regeln zu halten“, so Rixecker. Das Gericht habe den Menschen wieder eine Perspektive gegeben. Natürlich berge das Urteil auch Risiken. Ansteigende Infektionszahlen etwa oder das – nicht beabsichtigte – Signal, man stünde kurz vor einer vollständigen Lockerung der Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus.

„Dieser Gefahr kann durch eine transparente Informationspolitik und durch klare und konsequente Kontrollen weitgehend begegnet werden“, heißt es im Urteil.

Nach Urteil viel Zustimmung, aber auch Kritik

Ein Urteil, das Rixecker und seinen Kollegen nicht nur Zustimmung einbrachte. „Wir haben durchaus auch kritische Reaktionen von Menschen bekommen, die sehr besorgt sind um ihre Gesundheit und ihr Leben“, so der Richter. Die überwiegende Mehrheit habe jedoch mit großer Freude und Erleichterung reagiert. „Die sind froh, dass sie endlich wieder mehr Luft zum Leben haben.“

Focus Online: Donnerstag, 30.04.2020, 21:13