Staatlich verordneter Schutz: Impfpflicht damals und heute
7. April 2022Ob Pocken oder Corona: Beim Thema Impfpflicht scheiden sich die Geister. Wem gehört der Körper, was muss der Einzelne für die Allgemeinheit leisten? Und: Führt sie überhaupt zum Ziel? Es lohnt ein Blick in die Geschichte.
„Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“: Mit einem simplen Satz auf Plakaten und in Werbespots vor der Tagesschau wird den Menschen ab Ende der 50er-Jahre zwei Jahrzehnte lang niedrigschwellig eingebläut, wie wichtig eine Schutzimpfung gegen Kinderlähmung ist. Mit Erfolg: Seit gut 15 Jahren gilt Deutschland als Polio-frei. Bis das Ziel für Corona erreicht ist, braucht es Epidemiologen zufolge weiterhin einen Impf-Marathon. Denn Virologen prophezeien: „Corona ist noch lange nicht ausgestanden.“ Doch warum lassen sich so viele Menschen nicht überzeugen, sich impfen zu lassen? Und wie legitim und sinnvoll ist eine Impfpflicht? Ein Blick in die Geschichte gibt Aufschluss.
1807: Bayern führt als erstes Land Impfpflicht ein
Anfang des 19. Jahrhunderts erkranken Menschen an gefährlichen Blattern – die Pocken haben die Pest längst als schlimmste Krankheit abgelöst. Das Virus ist hochinfektiös, die Letalität hoch: Jedes fünfte Kind stirbt damals an den „Kindsblattern“. Obwohl es einen Impfstoff gibt, und die Menschen aufgefordert werden, sich impfen zu lassen, lehnen sie es ab. Zu groß ist ihre Skepsis, in die Natur einzugreifen. Zu gering das Vertrauen in Wissenschaft und Staat. Zu groß die Angst vor Nebenwirkungen: Was ist gefährlicher, die Krankheit selbst oder eine Impfung? Maximilian I. erlässt deshalb am 26. August im Königreich Bayern 1807 das erste Gesetz zur Impfpflicht gegen Pocken. Im Königlich-Baierischen Regierungsblatt erscheint dazu eine Verordnung „auf königlichen allerhöchsten Befehl, die in sämtlichen Provinzen gesezlich einzuführende Schuzpocken-Impfung betreffend.“
Gestaffelte Geldstrafen für Impfverweigerer
Die bayerische Verordnung besagt, dass über Dreijährigen, die noch nicht von Pocken genesen sind, bis zum 1. August 1808 geimpft sein müssen. Dafür verpflichtet sich die Regierung, Kinder zweimal im Jahr von approbierten Ärzten impfen zu lassen.
Dazu gehörte nicht nur die Durchführung der Impfung, sondern auch die spätere Kontrolle der Impfreaktion und das Ausfertigen des Impfscheines. Dieses Dokument musste gut aufbewahrt werden. Seine Vorlage wurde immer wieder gefordert, wenn Impflinge im Laufe ihres Lebens in den Blick der Obrigkeit kamen, etwa bei der Einschulung, bei der Musterung oder bei der Heirat. Deutsches Medizinhistorisches Museum
Kommen Erziehungsberechtigte dieser Impfpflicht nicht nach, drohen Geldstrafen. Diese richten sich nach dem Vermögen, sie reichen von 1 bis 8 Gulden. Zum Vergleich: Ein einfacher Soldat verdient seinerzeit 2,25 Gulden monatlich; ein Weber 2 Gulden in der Woche. Wenn Kinder auch mit vier Jahren noch kein Vakzin erhalten haben, erhöht sich die Strafe um 50 Prozent und steigert sich dann jährlich – bis hin zu 32 Gulden, bis das „Subjekt“ geimpft ist.
Krank ohne Impfung? Der Vater muss ins Gefängnis
Kommt es zu einem Pocken-Ausbruch bei einem ungeimpften Kind, werde der Vater zusätzlich zur Geldstrafe „auf eigene Kosten auf 3 bis 6 Tage ins Gefängnis gesezt, und zur Warnung öffentlich gemacht“, heißt es dort weiter. Straffreiheit gilt nur dann, wenn eine Impfung aufgrund besonderer Umstände oder Krankheiten ausbleiben müssen. Viele kommen einer Immunisierung nicht nach, sodass die Regierung die Geldstrafen ab 1810 verdreifacht, ein Jahr später bleibt Ungeimpften der Schulbesuch verwehrt.
Das Gesundheitswesen einschließlich der Infektionsbekämpfung liegt zu dieser Zeit in der Zuständigkeit der Einzelstaaten und Kommunen. In nächsten Jahren folgen weitere Flächenstaaten dem Beispiel Bayerns: Baden führt 1809 eine Impfpflicht ein, Preußen schließlich 1815. Nur das Königreich Sachsen schert aus.
19. Jahrhundert: Impfgegner organisieren sich
Doch mit dem gesellschaftlichen Druck, sich impfen lassen zu müssen, steigt auch die Zahl der Impfgegner. Sowohl im süddeutschen Raum als auch in Sachsen formiert sich Protest gegen das Impfen. Ein Eldorado der Impfkritiker ist neben Stuttgart zu dieser Zeit auch Leipzig. In beiden Zentren existieren bereits ab 1869 Impfgegner-Organisationen. In Hamburg gründet der Arzt Adolf Lafaurie 1874 einen Anti-Impfverein. Wie viele andere Kritiker reicht auch er eine Petition im Reichstag ein: „Das Unbegründete der Vaccinationslehre und das Unberechtigte des Zwanges“, heißt sein offenes Sendschreiben. Immer wieder zweifeln die Skeptiker an, dass der aus Kuhpocken gewonnene Impfstoff – also eine „thierische Krankheit“ – eine Heilkraft im menschlichen Körper entwickelt. Das sächsische Monatsblatt „Der Impfgegner“ entpuppt sich als Sprachrohr von Naturheilkundlern, Anthroposophen und medizinischen Laien. Ende des 19. Jahrhundert organisieren sich bereits über 300.000 Impfgegner in Vereinen.
1874: Otto von Bismarck erlässt Reichsimpfgesetz
Bei der Impfpflicht geht es immer auch um die Frage, was eigentlich wichtiger ist: das Allgemeinwohl oder eben das Recht des Individuums, das Selbstbestimmungsrecht über seinen Körper. Doch nach zwei großen Pocken-Ausbrüchen in den Jahren 1870 und 1873 mit über 180.000 Toten, wird am 18. April 1874 – trotz aller Skepsis und Kritik – die bis zum heutigen Tage einzige jemals in ganz Deutschland erlassene allgemeine Impfpflicht eingeführt. Mit dem Reichsimpfgesetz will Otto von Bismarck die Pocken endlich in den Griff bekommen. Wer seiner Impfpflicht nicht nachkommt, muss mit einer Geldstrafe von bis zu 50 Mark oder bis zu drei Tagen Haft rechnen, heißt es in Paragraf 14 des Gesetzes. Der Nachweis der Pflichtimpfung obliegt in der Kontrolle der Schulleiter, sie müssen den Behörden versäumte Impfungen melden. Kinder werden außerdem unter Polizeigewalt zum Arzt gebracht, um eine Impfung durchzuführen. Obwohl es immer wieder Anträge in der Nationalversammlung zur Abschaffung gibt – wie zum Beispiel 1919 durch den „Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung“ – wird das Reichsimpfgesetz bis in die Zeit der Weimarer Republik konsequent angewendet.
Infrastruktur und Kontrolle: Wenn Impfpflicht vergebens ist
Doch die Impfpflicht entpuppt sich schon Ende des 19. Jahrhunderts als stumpfes Schwert, denn viele Impfgegner „kaufen“ sich frei. „Man hat das Gefühl, dass die Impfquote überall hoch ist – man hat aber versteckte Infektionsherde, die immer wieder auch für Probleme sorgen, weil Menschen den Impfstatus fälschen und damit eigentlich eine umso größere Bedrohung für alle sind“, so Medizinhistoriker Malte Thießen gegenüber dem NDR. Und eine Impfpflicht verpflichtet nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch den Staat, der eine entsprechende Infrastruktur schaffen und anbieten muss. Eine Impfpflicht durchzuführen und zu kontrollieren benötigt Personal, bindet also viele Ressourcen. Was macht man mit denen, die noch nicht geimpft worden sind? Die muss man dann mehrfach vorladen und Gerichtsprozesse führen. Und im härtesten Fall werden diese Leute dann zwangsgeimpft“, hinterfragt Medizinhistoriker Malte Thießen.
Obwohl viele Nationalsozialisten Anhänger der Naturheilkunde sind und Impfungen generell ablehnen, bleibt die Impfpflicht gegen Pocken im Dritten Reich bestehen. Selbst antisemitische Vorurteile von NS-Politikern wie Julius Streicher, die Impfung sei eine Rassenschande, führen nicht zum Umdenken.
Der Herr Reichskanzler hat schon vor geraumer Zeit angeordnet, dass Anfragen nach seiner Stellungnahme zum Impfproblem dahin zu beantworten seien, dass er nicht Impfgegner sei. Die Gründe, die den Herrn Reichskanzler zu dieser Anordnung bewogen haben, liegen, wie ich streng vertraulich und zu Ihrer persönlichen Kenntnis bemerke, vorwiegend auf wehrpolitischem Gebiet. Schreiben der Reichskanzlei vom 25.61934 an Julius Streicher
Auf Drängen der Wehrmacht setzt sich das Reichswehrministerium mit Argumenten pro Impfplicht durch. Denn in Hinblick auf mögliche Kriege gilt es, die Schlagkraft und Wehrfähigkeit des Reiches zu erhalten. Allerdings liegt die Impfquote bei Pocken in den 30er-Jahren nur noch bei 60 bis 70 Prozent.
Diphtherie-Impfung: Propaganda statt Zwang
Als Emil von Behrings Diphtherie-Impfstoff 1936 in Deutschland zugelassen wird, bleibt eine Impfung freiwillig. Statt auf Zwang setzt der Staat auf Propagandafilme, die die Vakzination zum Dienst an der Volksgemeinschaft erheben. Im Zweiten Weltkrieg gibt es besonders unter Soldaten Reihenimpfungen – gegen Diphtherie, Typhus und Fleckfieber.
Doch in der allgemeinen Bevölkerung nimmt die Zahl der Impfungen – anders als in den letzten Kriegsjahren – erst nach 1945 wieder zu: Ob gegen die Ruhr oder auch wieder gegen Pocken: Der Wunsch nach Immunschutz ist groß.
50er-Jahre: Argumente im Sinne der Volksgesundheit
In der jungen Bundesrepublik lässt das Bedürfnis nach Impfungen wieder nach. Parallel nimmt die Kritik am Gesetz zur Impfpflicht wieder an Fahrt auf, auch vor dem Hintergrund einzelner Impfschäden: Ein neun Monate altes Mädchen etwa bekommt nach einer Pockenimpfung hohes Fieber, im weiteren Verlauf erleidet das Kind eine halbseitige Lähmung. Erst 2019 erkennt das Sozialgericht Landshut den Fall nach einem neuroradiologischen Gutachten als Impfschaden an. In den 50er-Jahren befürworten Gesundheitspolitiker die Impfpflicht noch im Sinne der Volksgesundheit. 1957 erklärt das Bundesgesundheitsamt: „Die persönliche Freiheit hat dort eine Grenze, wo lebenswichtige Interessen der Allgemeinheit überwiegen.“ Ähnlich äußern sich deutsche Gerichte, die Durchimpfung habe Pocken-Epidemien zum Erlöschen gebracht, so der Bundesgerichtshof.
Tetanus bis Polio: DDR macht Impfen zur Pflicht
Auch die DDR hält am Reichsimpfgesetz fest, belässt es bei Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Tuberkulose und Kinderlähmung aber zunächst bei der Freiwilligkeit. Erst Anfang der 60er-Jahre werden diese Impfungen für alle DDR-Bürger Pflicht. Polio-Erkrankungen etwa waren in den 50er-Jahren wieder massenhaft aufgetreten. Die verpflichtenden Schluckimpfungen mit dem Sabin-Tschumakow-Impfstoff ab 1960 zeigen Erfolg: Die Fallzahlen gehen bis auf Einzelfälle zurück.
Bekämpfung von Kinderlähmung: Zwei Wege führen zum Ziel
Anders in Westdeutschland – dort führen einzelne Bundesländer ab 1962 die Schluckimpfung auf freiwilliger Basis ein. Nach anfänglicher Skepsis wird das Angebot gut angenommen, die Impfquote liegt bei rund 95 Prozent. Erkrankungen und Todesfälle gehen stark zurück. Schon 1965 bleibt die Zahl der Polio-Erkrankungen in Deutschland konstant unter 50 Fällen. Seit gut 15 Jahren gilt Deutschland als Polio-frei. Nach Einschätzungen der WHO nimmt die Impfquote gegen Kinderlähmung in Deutschland in den vergangenen Jahren wieder ab – obwohl Polio weltweit längst noch nicht ausgerottet ist.
1976: Impfpflicht gegen Pocken wird abgeschafft
Auch die Pocken haben in der Zwischenzeit ihren Schrecken verloren – 1972 wird in Hannover der letzte Fall in Deutschland registriert. Ein „Gastarbeiter“ hatte die Virusinfektion aus Jugoslawien mitgebracht. Die Krankheit stellt keine Gefahr mehr für die Gesellschaft dar. Vier Jahre später, 1976, schafft die Regierung unter Helmut Schmidt die Impfpflicht gegen Pocken schrittweise ab. 102 Jahre hatte das Gesetz Bestand. Im Oktober 1979 erklärt die WHO die Pocken für ausgerottet.
2020: Impfpflicht für Kinder gegen Masern
Ab den 2000er-Jahren kommt es in Deutschland verstärkt zu Ausbrüchen von Maserninfektionen. Symptome der meldepflichtigen Viruserkrankung sind Schnupfen, Husten und hohes Fieber. Nach einigen Tagen entwickelt sich zudem ein Hautausschlag. Schwere Verläufe können zu einer Meningitis führen. Spätfolgen können Taubheit sein. Da zwischen 2001 und 2018 acht Todesfälle registriert werden, legt das Bundesgesundheitsministerium im Mai 2019 einen Entwurf zu einem Masernschutzgesetz vor.
Es sieht die Einführung einer Impfpflicht vor – alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr müssen bei Eintritt in eine Kita oder Schule einen Impfnachweis erbringen. Kommen Eltern dieser Impfpflicht nicht nach, droht ein Kita-Verbot und eine Geldbuße von bis zu 2.500 Euro. Darüber hinaus müssen auch Beschäftigte von medizinischen und Gemeinschaftseinrichtungen – sprich: Erzieher, Lehrerinnen, medizinisches Personal – die nach 1970 geboren sind, einen Masernschutz vorweisen. Das Masernschutzgesetz tritt schließlich am 1. März 2020 in Kraft.
Corona: Wird allgemeine Impfpflicht zur Dauerdebatte?
Was zu Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 von deutschen Politikern noch unisono und vehement ausgeschlossen wird, treibt Impfgegner eineinhalb Jahre und mehrere Corona-Wellen später dann die Wut in die Adern: Immer mehr Gesundheitsbeauftragte und Fachleute sprechen sich angesichts hoher Infektionszahlen für eine allgemeine Impfpflicht aus.
Noch Ende 2021 beschließen Bundestag und Bundesrat zunächst die einrichtungsbezogene Impfpflicht, die Mitte März 2022 in Kraft tritt. Doch die allgemeine Impfpflicht, die Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD) zum Jahresende noch wahlweise versprochen beziehungsweise angedroht hatte, droht indes zu scheitern. Zwar wird SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser nicht müde zu betonen, dass eine Impfpflicht nicht mit einem Impfzwang gleichzusetzen sei. Doch zu unterschiedlich sind die Positionen in den Parteien, zu hoch die Hürden für den Aufbau eines nationalen Impfregisters.
Bundestag stimmt über Anträge zur Impfpflicht ab
Aktuell scheitert die Einführung einer Impfpflicht ab 18 Jahren an einer Mehrheit im Bundestag. Am 7. April kommt jetzt ein Entwurf zur Abstimmung, der eine Impfpflicht ab 60 Jahren vorsieht. Wird er durchgewunken, ist die Debatte damit aber noch nicht beendet: Je nach Corona-Lage – so geht es aus den Anträgen außerdem hervor – könnte der Bundestag im Herbst entscheiden, ob eine Impfpflicht ab 18 Jahren doch noch einmal auf die Tagesordnung kommt.