Die Geschichte des Impfens und seiner Gegner
7. April 2022Heute werden Impfstoffe wie etwa gegen Corona im Rekordtempo entwickelt. Seit über 200 Jahren arbeiten Forscher an Vakzinen zum Schutz gegen tödliche Infektionskrankheiten. Seitdem stehen sie immer wieder Skeptikern und Impfgegnern gegenüber.
Die Geschichte des Impfens beginnt mit dem Kampf gegen Pocken. Die gefährlichen Blattern gibt es schon seit Jahrtausenden, in Nordeuropa breitet sich die durch Tröpfchen übertragene Virusinfektion ab dem 7. Jahrhundert unter den Wikingern aus. Über Jahrhunderte wütet die Seuche auf dem Kontinent, rafft Millionen Menschen dahin. Noch im 18. Jahrhundert sterben besonders Babys an dem pustelartigen Ausschlag an Gesicht, Armen und Beinen sowie hohem Fieber.
Edward Jenner entwickelt Vakzin gegen Pocken
Immer wieder gibt es deshalb Versuche, Pockenerkrankte zu immunisieren. Der wissenschaftliche Durchbruch in Form einer Schutzimpfung kommt erst im Jahr 1796, als der englische Arzt Edward Jenner einen Jungen mit Kuhpocken – über einen Schnitt in den Oberarm – infiziert. Da es noch keine Spritzen gibt, ritzt der Mediziner die Krankheitserreger unter die Haut. Was damals noch einem Versuch am Menschen gleichkommt, ist ein Meilenstein im Kampf gegen die gefürchtete Seuche, denn das Kind ist nun gegen Menschenpocken immun. Jenner nennt den Impfstoff „Vaccine“. Daraus leitet sich der der heutige Begriff für die Impfung ab: Vakzination. 1798 publiziert der Brite seine Forschungsergebnisse – die Wirksamkeit der Pocken-Impfung ist belegt.
Große Impfskepsis führt zu Reichsimpfgesetz und Impfpflicht
Lange ist die deutsche Bevölkerung solchen Versuchen gegenüber äußerst skeptisch. Es gibt Gerüchte, Impfstoffe könnten Menschen verwandeln, zum Beispiel in Kühe. Damals wie heute ist das Impfen föderal geregelt. Am 26. August 1807 führt Bayern als weltweit erstes Land eine Impfpflicht ein. Andere deutsche Flächenstaaten ziehen nach. Als im Deutschen Reich 1871 in Deutschland eine schwere Pocken-Epidemie ausbricht, sterben daran rund 180.000 Menschen. In der Folge führt der Staat unter Otto von Bismarck 1874 mit dem Reichsimpfgesetz eine Impfpflicht ein – und greift damit in das Leben des Individuums ein. Es gibt Impfanstalten, Amtsärzte immunisieren auf Bauernhöfen. Wer sich einer Impfung verweigert, dem drohen Sanktionen: Geldstrafen, Haft oder auch die Zwangsimpfung.
Impfzwang ruft Impfgegner auf den Plan
Doch mit dem Impfzwang wächst der Widerstand in der Bevölkerung. Die Sorge vor dem Freiheitsverlust besteht, seitdem es Impfungen gibt. Es geht nicht nur um einen Pieks, sondern um Weltanschauungen – und darum, wer über den eigenen Körper bestimmt. Damals wie heute haben die Menschen Angst vor Nebenwirkungen oder einem Impfschaden. Manche sehen in der Impfung einen Eingriff in die Natur oder Gottes Schöpfung – und in der Impfpflicht einen Eingriff in die Freiheitsrechte. Naturheilkundler, Anthroposophen und medizinische Laien stellen die Wirksamkeit der Pocken-Impfung in Zeitschriften wie „Der Impfgegner“, dem Zentralorgan der Bewegung, in Frage. Die Immunisierung verhindere gar die Selbstheilung des Körpers. Immer mehr Vereine, die gegen das Impfen mobil machen, werden im Deutschen Kaiserreich gegründet. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges zählen sie rund 300.000 Mitglieder.
Verschwörungstheorien existieren, seit es Impfungen gibt
Selbst Verschwörungstheorien existieren, seit es Impfungen gibt. Die US-amerikanische Impfgegnerin Eleanor McBean behauptet in einem Buch, die Ursache der Spanischen Grippe seien Vakzinationen gewesen. Obwohl es zu der Zeit noch gar keine Grippeimpfung gibt. In der Folge sinkt die Bereitschaft der Menschen, sich gegen Pocken immunisieren zu lassen. Allein im 20. Jahrhundert sterben noch 500 Millionen Menschen an den Blattern. Der letzte Pocken-Fall ereignet sich 1972 in Hannover, ein Gastarbeiter bringt die Virusinfektion aus Jugoslawien mit. 1976 wird die Pflicht zur Erstimpfung gegen Pocken in Westdeutschland aufgehoben, 1979 erklärt die WHO die Pocken für ausgerottet.
Emil von Behring führt erste Diphtherie-Impfung durch
Im 19. Jahrhundert gehört Diphtherie zu den häufigsten Todesursachen bei Kleinkindern, jährlich sterben bis zu 50.000 Jungen und Mädchen an der bakteriellen Infektion des Hals- und Rachenraums. Ärzte sind zunächst machtlos gegen die im Volksmund als „Würgeengel der Kinder“ bezeichnete Seuche, bis Emil von Behring eine Therapie aus Blutseren entdeckt. Der Assistent von Robert Koch will die Krankheit mithilfe von Anti-Toxinen bekämpfen, die vom Körper selbst durch eine Abwehrreaktion produziert werden. 1894 erfolgt eine passive Immunisierung gegen Diphtherie, der Schutz hält allerdings nur für kurze Zeit an. Für seine medizinischen Verdienste erhält von Behring 1901 den Nobelpreis für Medizin. 1923 kann schließlich die erste prophylaktische Impfung gegen Diphtherie durchgeführt werden, 1936 erfolgt die Zulassung in Deutschland.
Lübecker Tuberkulose-Impfunglück: 77 Babys sterben
Typisch für Infektionskrankheiten sind soziale und hygienische Bedingungen, so gilt Tuberkulose als Krankheit der Armen. 1882 wird der bakterielle Erreger von Robert Koch entdeckt. Doch ein Impfstoff in Form einer oralen Schutzimpfung kommt erst 1921 auf den Markt, entwickelt nach 13-jähriger Vorarbeit durch die französischen Immunologen Albert Calmette und Camille Guérin. 1930 entscheidet das Lübecker Gesundheitsamt, die Impfung an Neugeborenen einzuführen. Doch 77 Säuglinge überleben die Tuberkulose-Vakzination nicht. Der Grund sind verunreinigte Präparate. Die Verantwortlichen in Lübeck, der Arzt Georg Deycke sowie der Leiter des Gesundheitsamts Ernst Altstaedt, müssen sich vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Lübeck wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung verantworten. Das größte Impfunglück des 20. Jahrhunderts bleibt nicht ohne Folgen: Der Impfstoff gegen Tuberkulose wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eingeführt. Der Fall erregt so viel Aufsehen, dass das ZDF den „Fall Calmette“ 1964 in der Serie „Kriminalgericht“ verfilmt.
Drittes Reich – Impfen als Dienst am Volk
Im Dritten Reich gibt es zunächst Lockerungen bei der Impfpflicht. Unter den Nazis gibt es Impfgegner – dazu gehören unter anderem Heinrich Himmler und Rudolf Heß. Sie gelten als Vertreter der neuen deutschen Heilkunde, die Impfen als jüdische Rassenschande verstehen. Am Ende setzt sich jedoch das Reichswehrministerium mit seinen Argumenten durch, eine Abschaffung der Impfpflicht könnte der Schlagkraft und Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches schaden. Die Diphtherie-Impfung bleibt allerdings freiwillig. Aber der soziale Druck ist hoch, denn die Impfung wird als Dienst an der Volksgemeinschaft verstanden. Propagandafilme sollen die Impfwilligkeit in der Bevölkerung stärken.
Menschenversuche an KZ-Häftlingen mit Fleckfieber-Vakzin
Die Nationalsozialisten arbeiten mit Parolen, die überzeugender sind als jede Impfpflicht. Die Gesundheitsbehörden identifizieren die jüdische Bevölkerung als vermeintliche Hauptüberträger des Fleckfiebers, auch Flecktyphus genannt. Weil die Krankheit über Läuse übertragen wird, instrumentalisieren sie die Infektionskrankheit für rassistische Ressentiments gegen den „jüdischen Parasiten“. Um ein Vakzin gegen Fleckfieber zu testen, führen NS-Ärzte Menschenversuche an 1.000 Häftlingen im KZ Buchenwald durch – ohne deren Einverständnis. Gerhard Rose, Tropenmediziner am Robert Koch-Institut (RKI), spritzt den unfreiwilligen Probanden hohe Dosen an infektiösem Blut, viele von ihnen sterben bei diesen Versuchen. Auf Forschungsebene gibt es schnell Zweifel an der Wirksamkeit des Vakzins, doch das NS-Regime treibt die Produktion an und lässt vor allem die Wehrmacht mit dem Impfstoff beliefern.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs gilt auch als Ende der deutschen Fleckfieber-Impfstoffentwicklung: In der Zwischenzeit hatten US-amerikanische Ärzte Erfolg mit einer Antibiotika-Therapie gegen die Krankheit, wie Thomas Werther in seiner Dissertation „Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914 – 1945“ schreibt.
Der RKI-Mediziner Rose wird im Rahmen der Nürnberger Prozesse zu lebenslanger Haft verurteilt, doch schon 1955 kommt er wieder frei.
Nachkriegszeit – Impstoffe sind wichtiger Wirtschaftsfaktor
Die Nachkriegszeit ist zunächst geprägt vom Vergessen der Schrecken früherer Infektionskrankheiten. Die Menschen müssen von Vorsorgemaßnahmen erst wieder überzeugt werden. Ziel ist das Allgemeinwohl, dabei steht vor allem der Schutz der Kinder im Vordergrund. Beim Impfen spielt die Pharmaindustrie eine immer entscheidendere Rolle. Das Spannungsfeld zwischen Profitstreben und der Gesundheit der Menschen wirft viele ethischen Fragen auf. Das unternehmerische Risiko, in die Impfstoffentwicklung zu investieren, findet jedoch auch Anerkennung. Denn nicht jede Entwicklung verspricht Erfolg, viel Geld kann ins Nichts wandern. Anderseits existieren viele Vorbehalte, ob Impfstoffe sicher sind oder ob die Pharmafirmen nur schnell Kasse machen möchten.
Polio: Keine Impfpflicht gegen Kinderlähmung im Westen
In den 1950er-Jahren bricht Poliomyelitis immer wieder seuchenartig aus. Die hochansteckende Viruserkrankung trifft vor allem Kinder. Bei schweren Verläufen befällt das Polio-Virus Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn, was zu Lähmungen führen kann. Wenn die Atemmuskulatur ausfällt, ist ein Luftröhrenschnitt oder die „Eiserne Lunge“ oft die letzte Rettung. Weil es nur wenige Geräte gibt, findet schon vor vielen Jahrzehnten eine Triage statt – das heißt, nicht alle Patienten können eine Behandlung bekommen. Anders als in der DDR ist die Skepsis gegenüber Impfstoffen bei Eltern in Westdeutschland groß. In Ostdeutschland erkennen die Herrschenden die Gefahr hingegen. 1960 führen sie eine Pflichtimpfung gegen Kinderlähmung ein. Ein Jahr später gibt es in der DDR vier neue Infektionsfälle, im Westen mehr als 4.500 – und kein Vakzin für die Schluckimpfung.
Ost gegen West – Wettlauf zweier Systeme
Der Osten nutzt seinen Wettbewerbsvorteil zu Propagandazwecken. Das Argument: Der Westen würde seine Kinder der Krankheit ausliefern. Der stellvertretende DDR-Ministerpräsident Willi Stoph bietet der Bundesrepublik 1961 drei Millionen Impfdosen aus sowjetischer Produktion an. Bundeskanzler Konrad Adenauer wittert Propaganda im Kalten Krieg und lehnt das Angebot ab. 1962 beginnt der Westen, gegen Polio zu immunisieren – mit Impfstoff aus den USA. Impfungen haben in der DDR einen hohen Stellenwert, sind aber auch Pflicht – anders als im Westen. DDR-Bürger werden bis zu ihrem 18. Lebensjahr bis zu 20 Mal gepiekst: gegen Tetanus, Tuberkulose, Masern oder Keuchhusten. Der Westen setzt auf Freiwilligkeit, nur die Pocken-Impfung ist Pflicht.
Impfen im Verhältnis von Allgemeinheit und Individuum
Aber Impfungen bringen nicht nur Segen: In den 1960ern führt jede 30.000ste Pocken-Impfung zu schweren Schäden, schätzen Experten. Die Schweinegrippe-Impfung mit Pandemrix kann bei Menschen mit bestimmten genetischen Veranlagungen zu Narkolepsie (Schlaf-Wach-Störung) führen. Besonders bei Kindern und Jugendlichen tritt in den Jahren 2009 und 2010 diese seltene Nebenwirkung auf. In der Summe sind Impfschäden zwar selten, doch für Betroffene sind sie eine Belastung. Viele wünschen sich deshalb eine angemessene Entschädigung, so wie in Schweden. Dort erhalten Opfer von Narkolepsie nach der Schweinegrippe-Impfung Entschädigungszahlungen. Ob Menschen sich für sich selbst oder für andere impfen lassen, dieser Streit schwelt seit gut 200 Jahren. Doch beim Impfen geht es eben auch um die Allgemeinheit, nicht nur ums Individuum.
Gegen andere Krankheiten wie Aids gibt es bis heute keinen Impfstoff. Es existieren sehr viele Varianten des Erregers, das Virus mutiert schneller, als das Immunsystem darauf reagieren kann. In Europa hat die ehemals tödliche Immunschwäche etwas von ihrem Schrecken verloren. Sie lässt sich mit guten Therapeutika in den Griff bekommen – anders ist es in Afrika. Doch Impfforschung wird oftmals nicht als internationale Aufgabe und globales Projekt verstanden. Zu kurz gedacht, denn nur globaler Schutz bedeutet auch langfristige Sicherheit. Alle Infektionen können auch wieder zurückkommen.
Rekordtempo bei Entwicklung von Corona-Impfstoffen
So ist Immunität auf gesellschaftlicher Ebene ist bis heute nicht selbstverständlich. Selbst Polio ist noch nicht ausgerottet. Und ohne einen Pocken-Impfstoff wären mittlerweile über 200 Millionen Menschen gestorben, schätzen Experten. Die Spanischen Grippe in den Jahren 1918/19 zählt zu den schwersten Influenza-Pandemien, weltweit sterben damals rund 50 Millionen Menschen. Erst 1933 wird das Grippevirus isoliert, 1945 kommt der erste Influenza-Impfstoff auf den Markt. Heute entwickeln Forscher sehr viel schneller Impfstoffe. Bestes Beispiel ist das Rekordtempo während der Corona-Pandemie. In nicht einmal einem Jahr haben mehrere Hersteller Vakzine gegen Covid-19 entwickelt. Einen 100-prozentigen Schutz bietet die Schutzimpfung nicht, kann aber schwere Krankheitsverläufe verhindern und die Viren-Übertragung vermindern.
Kommt mit Corona auch eine neue allgemeine Impfpflicht?
Das Rekordtempo der Impfstoffentwicklung steht aktuell allerdings einer unerwartet hohen Impfskepsis in Deutschland gegenüber. Deutlich weniger Menschen als erwartet – und vor allem deutlich weniger, als für eine Herdenimmunität nötig – haben sich bisher gegen Covid-19 immunisieren lassen. Was zu Beginn der Corona-Pandemie auf politischer Ebene noch kategorisch ausgeschlossen wurde, löst nun immer wieder heftige kontroverse Debatten aus: die Frage, ob es neben der mittlerweile beschlossenen berufsbezogenen Impfpflicht am Ende doch noch eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona geben wird.