Impfpflicht aus historischer Sicht: „Sanktionen helfen nicht“
7. April 2022Am Wochenende wurde wieder gegen die Corona-Maßnahmen protestiert. Warum ist die Frage des Impfens zu einer solch explosiven Angelegenheit geworden? Fragen an den Historiker Malte Thießen.
Malte Thießen: Die Sprengkraft ist genauso alt wie das Impfen selbst. Es gab schon mit der ersten Impfung die Skeptiker und Kritiker, und das hängt damit zusammen, dass das Impfen das politischste aller Gesundheitsthemen ist. Es geht nämlich nie nur um den Pieks für den Einzelnen, sondern es geht um ganz grundsätzliche Dinge. Es geht um das Vertrauen in den Staat, um Vertrauen in die Wissenschaft. Es geht auch um die Kompetenzen – wer darf im Falle der Impfpflicht über den Körper bestimmen? Und deshalb brechen beim Impfen immer die Fragen auf, bei denen es um die Grundsätze der Gesellschaft und um Weltbilder geht. Das macht diese Sprengkraft nachvollziehbar.
So neu und einzigartig sind diese Widerstände also gar nicht, richtig?
Thießen: In der Tat. Als Historiker bekommt man so manches unangenehme Déjà-vu. Die Kritik gab es schon im 19. Jahrhundert. Es gab auch schon Demonstrationen gegen die Impfpflicht im 19. Jahrhundert. Es gibt Impfgegnervereine mit sehr massiven Forderungen und zum Teil sehr weitgehenden Maßnahmen. Das ist tatsächlich erschreckend vertraut. Es gab aber früher wahrscheinlich sehr viel mehr Widerstand als heute: Man schätzt, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts über 300.000 Impfgegner in organisierten Vereinen in Deutschland gab. An die Zahlen kommen wir – Gott sei Dank – nicht heran.
Haben Sie das Gefühl, dass in der medialen Berichterstattung dem Thema Impfen beziehungsweise den Impfgegnern zu viel Raum gegeben wird?
Thießen: Ich bin da gespalten. Einerseits ist Impfskepsis, Impfkritik ein großes Problem, weil wir die Quote hochbekommen müssen. Andererseits ist es ein sehr wichtiges Thema, an dem sich ganz unterschiedliche Themen festmachen lassen. Impfkritik ist nie nur auf ein einfaches Argument zu bringen. Es gibt ganz unterschiedliche Hintergründe – auch das kann man aus historischer Perspektive schon sehen. Es gab auch früher schon die Rechten, die mit antisemitischen Verschwörungstheorien gegen das Impfen arbeiteten, aber es gab zum Beispiel auch Liberale, die Sorge vor den Eingriffen in Grundrechte hatten oder Menschen, die Sorgen vor Nebenwirkungen hatten. Diese Bandbreite an unterschiedlichen Motiven, aus denen sich Skepsis und Kritik speist, muss man erst einmal wahrnehmen. Und deshalb ist die Berichterstattung meiner Meinung nach sehr gut, weil ganz unterschiedliche Hintergründe aufgezeigt werden und wir deshalb – zumindest mit einem Teil – im Gespräch bleiben können. Das scheint mir wichtig zu sein.
Sie unterscheiden insgesamt elf Arten von Impfskepsis. Wie können wir denjenigen jeweils begegnen? Bei wem macht es überhaupt Sinn, zu versuchen zu überzeugen?
Thießen: Bei Verschwörungstheorien und gerade bei rechten Instrumentalisierungen des Impfens scheint mir zum Teil Hopfen und Malz verloren zu sein. Aber ein Großteil hat tatsächlich mit Sorgen und Ängsten zu tun und da lohnt es sich, mit diesen Menschen im Gespräch zu bleiben. Das ist insofern wichtig, weil es nichts bringt, Menschen in die Ecke zu drängen, zu bestrafen oder zu sanktionieren, weil es wichtig ist, dass möglichst viele an einem Strang ziehen, gerade bei der Pandemiebekämpfung. Seuchen sind immer die sozialsten aller Krankheiten und es hängt davon ab, dass wir uns möglichst alle gut auf die Seuche einstellen und miteinander solidarisch sind. Dafür braucht man eine gute Gesprächsatmosphäre – das ist zumindest aus historischer Perspektive eine Lehre, die man ziehen kann.
Wie beurteilen Sie die Qualität der Kommunikation der Impfkampagne? Was macht aus Ihrer Sicht eine erfolgreiche Impfkampagne aus?
Thießen: In der Tat scheint mir bei der politischen Kommunikation der Impfkampagne lange Zeit noch Luft nach oben gewesen zu sein. Das wird in den letzten Wochen langsam besser, gerade wenn man zurückblickt, wie früher Impfkampagnen kommuniziert wurden. Zum Beispiel bei der Kampagne gegen Kinderlähmung in den 60er-, 70er-Jahren: Da hat jeder Zweite hat noch den Slogan im Ohr: „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam.“ Das zeigt den großen Erfolg einer riesigen Medienkampagne, die es damals gab. Da wird zur besten Sendezeit kommuniziert, vor der Tagesschau, es werden aber auch unterschiedliche Adressatenkreise angesprochen, und zwar mit einer niedrigschwelligen Kommunikation. Es gibt Entscheidungshilfen für individuelle Risikoabwägungen und es wird ganz offensiv mit den potenziellen Nebenwirkungen umgegangen, die sehr selten sind, aber mit denen man rechnen muss. Und es wird auch offensiv mit der Relativität von Immunität umgegangen. Das scheint mir ein großer Vorzug im Gegensatz zu heute zu sein. Früher wusste man auch schon, dass Impfungen sehr gut sind, aber nie ein hundertprozentiges Sicherheitsversprechen geben können. Ich nenne das Immunität als Relativitätstheorie. Das muss man heute wahrscheinlich erst wieder lernen – und auch das sollte man kommunizieren, damit die Enttäuschung später nicht so groß ist.
Was sagt der Blick in die Geschichte zur Impfpflicht?
Thießen: Die Sehnsucht nach der Impfpflicht halte ich für sehr nachvollziehbar. Dass die Impfquote nicht schneller höher ging, das nervt eigentlich nur und macht auch Angst. Ich habe Kinder, ich habe sehr alte Eltern – insofern kann ich die Sehnsucht nach der Impfpflicht sehr nachvollziehen. Aus historischer Perspektive ist die Impfpflicht allerdings ein zweischneidiges Schwert oder zum Teil sogar ein stumpfes Schwert. Sie bringt einerseits Vorteile, zum einen, dass durch die Impfpflicht der Staat gezwungen ist, eine Infrastruktur für das Impfen zu schaffen. Das ist super. Die Impfpflicht ist immer doppeldeutig – sie verpflichtet nicht nur den Staatsbürger, sondern auch den Staat, ein Angebot zu schaffen. Das wäre etwas, was wir jetzt gebrauchen könnten. Es gibt auch den Vorteil, dass man die, die aus Bequemlichkeit nicht bereit sind zum Impfen, mit einer Impfpflicht gewinnt.
Aber es überwiegen insgesamt die Nachteile, vor allen Dingen, dass man Impfkritik mobilisiert – und zwar nicht nur bei denen, die sowieso Impfgegner sind, sondern bei den Unentschlossenen und Zögerlichen. Das sind also die, die nicht unbedingt nur Angst vor dem Impfen haben, sondern Vorbehalte vor staatlichen Eingriffen. Da mobilisiert man die, die man eigentlich noch erreichen könnte.
Eine andere Sache, die sich aus historischer Perspektive bemerkbar macht, ist, dass die Impfpflicht auch ein stumpfes Schwert ist, denn Sanktionen helfen nicht gegen Impfgegner. Man bringt die Impfquote nicht mit Geldstrafen nach oben, sondern im Gegenteil, dann kaufen sich die Menschen frei. Das beobachtete man schon im 19. Jahrhundert. Eine Impfpflicht schafft auch verdeckte Infektionsherde – auch das kann man historisch beobachten. Mit der Einführung der Impfpflicht im 19. Jahrhundert florierte der Handel von gefälschten Impfausweisen und Impfzeugnissen. Man hat das Gefühl, dass die Impfquote überall hoch ist – man hat aber versteckte Infektionsherde, die immer wieder auch für Probleme sorgen, weil Menschen den Impfstatus fälschen und damit eigentlich eine umso größere Bedrohung für alle sind.