Krieg gegen die Ukraine Selenskyj droht Moskau mit Verhandlungsabbruch
16. April 2022Sollte die russische Armee in Mariupol alle ukrainischen Soldaten „ausschalten“, könne das das Ende der Verhandlungen bedeuten, so der ukrainische Präsident Selenskyj. Moskau will bereits alle gegnerischen Streitkräfte vertrieben haben.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Russland mit einem Ende der Friedensverhandlungen gedroht, falls die ukrainischen Kämpfer in der Hafenstadt Mariupol getötet werden sollten. Für beide Seiten wäre das eine „Sackgasse, denn wir verhandeln weder über unsere Territorien noch über unsere Leute“, sagte Selenskyj der Nachrichten-Website Ukrainska Prawda.
„Kein Vertrauen in Verhandlungen“
Die Verhandlungen, die eine russische und eine ukrainische Delegation kurz nach Kriegsbeginn begonnen hatten, seien jedoch notwendig, um den ukrainischen Staat zu verteidigen und die Kämpfe zu beenden. Die Lage sei sehr schwierig“, sagte Selenskyj. „Um ehrlich zu sein, haben wir kein Vertrauen in die Verhandlungen über Mariupol.“
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Das russische Verteidigungsministerium meldete einem Medienbericht zufolge eine fast komplette Vertreibung der ukrainischen Streitkräfte aus Mariupol. Es seien noch einige Kämpfer in der Fabrik Asowstal eingeschlossen, zitiert die Nachrichtenagentur RIA einen Sprecher des Ministeriums.
Russen wollen Hafen bereits kontrollieren
Bereits Mitte der Woche hatte das Ministerium erklärt, dass die russischen Truppen die volle Kontrolle über den Hafen von Mariupol erlangt hätten. Die Stadt war Anfang März komplett von russischen Truppen eingeschlossen worden. Nach russischen Angaben sollen die Ukrainer mehr als 4000 Militärangehörige in der Stadt verloren haben. Die Angaben lassen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen.
Russland meldet Kontrolle über Mariupols Hafen
Die russische Armee hat den Hafen der weitgehend zerstörten ukrainischen Stadt Mariupol nach eigenen Angaben inzwischen komplett unter ihre Kontrolle gebracht. Der Handelshafen sei von ukrainischen Asow-Kämpfern „befreit“ worden, sagte Igor Konaschenkow, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums.
Die verbliebenen ukrainischen Truppen seien „blockiert und der Möglichkeit beraubt, aus der Einkesselung zu entkommen“, so Konaschenkow weiter. Von ukrainischer Seite gab es dafür keine Bestätigung.
Konfliktparteien als QuelleAngaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Mariupols Bürgermeister spricht von „Falschmeldung“
Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko wies Berichte über die Eroberung des Hafens zurück. „Ich betrachte es als eine Falschmeldung“, sagte Boitschenko im ARD-Morgenmagazin. „Meine Haltung ist natürlich skeptisch, russische Lügen hören wir auf Schritt und Tritt, weshalb ich empfehle, nur geprüfte Informationen zu verwenden“, sagte Boitschenko, der per Video zugeschaltet war und Mariupol inzwischen verlassen hat.
„Unsere Verteidiger verteidigen weiterhin die Stadt Mariupol, das Asow-Regiment und die ukrainische Marineinfanterie sind im Einsatz“, sagte Boitschenko. „Die Russen setzen neue Kräfte ein, aber wir halten die Linie und Mariupol bleibt eine ukrainische Stadt, und das macht natürlich Russland wütend.“
Einer Einschätzung des US-Kriegsforschungsinstituts Institute for the Study of War (ISW) zufolge werden die russischen Truppen die Stadt „wahrscheinlich“ erst in der kommenden Woche erobern.
Krieg gegen die Ukraine: Lage in Mariupol weiter unübersichtlich
Neun Fluchtkorridore eingerichtet
Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterscheidet sich die militärische Lage aktuell nicht wesentlich von der der vergangenen Tage. Russische Truppen verstärkten weiterhin ihre Aktivitäten im Osten und im Süden des Landes, so Selenskyj. Sie versuchten, ihre Verluste auszugleichen, die Bomben- und Artillerieangriffe gingen weiter. In Kürze wird mit einer russischen Großoffensive gerechnet.
In Vorbereitung darauf wurden in den umkämpften Regionen Luhansk und Donezk nach Angaben der Regierung in Kiew für heute neun Fluchtkorridore eingerichtet. Eine Fluchtmöglichkeit gebe es für Privatfahrzeuge aus Mariupol in Richtung der Stadt Saporischschja, teilte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk mit.
Acht weitere Korridore seien in der Region Luhansk eingerichtet worden – mit vorläufigem Ziel Bachmut. Sie könnten aber nur funktionieren, wenn der Beschuss von russischer Seite eingestellt werde, sagte Wereschtschuk. Zudem solle ein Evakuierungszug aus Pokrowsk über Kiew nach Tschop im Südwesten der Ukraine fahren, hieß es in der Hauptstadt.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Angriffe auf Kramatorsk und Kostjantyniwka befürchtet
Der britische Militärgeheimdienst rechnet mit größeren russischen Angriffen auf die ostukrainischen Städte Kramatorsk und Kostjantyniwka. Die weit verbreiteten Raketen- und Artillerieangriffe und Bemühungen, die Truppen für eine Offensive zu konzentrieren, zeigten zudem eine Rückkehr zur traditionellen russischen Militärdoktrin, führt der Geheimdienst nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums in seiner aktualisierten Lagebeurteilung weiter aus. Eine erhebliche Zahl an russischen Soldaten und Gerät sei derzeit wegen der anhaltenden Verteidigung der Hafenstadt Mariupol gebunden.
Russische Truppen sollen ukrainischen Angaben zufolge große Mengen an nicht explodierten Sprengvorrichtungen im Norden des Landes hinterlassen haben. Zehntausende nicht detonierter Granaten oder Minen seien in dem Gebiet, sagte Selenskyj. Die Minenräumung dauere an.
Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedjew reagierte indes mit Beschimpfungen auf die Festnahme des prorussischen Politikers Viktor Medwedtschuk in der Ukraine und erhob schwere Vorwürfe gegen Kiew.
„Vereinzelte Missgeburten, die sich selbst als ‚ukrainische Regierung‘ bezeichnen, erklären, dass sie ein Geständnis aus Viktor Medwedtschuk herausprügeln, ihn ’schnell und gerecht‘ verurteilen und dann gegen Gefangene austauschen wollen“, schrieb Medwedjew am Mittwoch auf seinem Telegram-Kanal. Auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, warf Kiew Foltermethoden vor – ohne dafür jedoch Beweise zu liefern.
Medwedtschuk war viele Jahre einer der einflussreichsten Politiker in der Ukraine und gilt zugleich als engster Verbündeter von Russlands Präsident Wladimir Putin im Land. Putin ist auch Taufpate von Medwedtschuks Tochter. Kurz vor Ausbruch des Krieges am 24. Februar hatte sich Medwedtschuk aus seinem Hausarrest abgesetzt. Am Dienstag wurde Medwedtschuk vom ukrainischen Geheimdienst SBU festgenommen.
Mariupol ist die größte Stadt zwischen der von Russland annektierten Krim-Halbinsel und den pro-russischen Separatistengebieten. Mit einer Eroberung der Hafenstadt würden die russischen Truppen eine Landverbindung zwischen den beiden Gebieten herstellen und die Ukraine vom Asowschen Meer abschneiden.