Wie kam Corona in die Welt? Ein bislang wenig beachteter Recherchebericht stärkt die These, ein Laborunfall könnte die Sars-CoV-2-Pandemie ausgelöst haben
Christian Drosten hat, für einen Wissenschaftler nicht ungewöhnlich, seine Meinung zum pandemischen Coronavirus immer wieder geändert. Schließlich gab es ständig neue Erkenntnisse zu verarbeiten. Zu den überraschendsten Wendungen des Berliner Chefvirologen zählen einige Sätze in Interviews Anfang Februar. Drosten zweifelt an der bis dahin von ihm vehement vertretenen Annahme, Forschern und Behörden in der chinesischen Stadt Wuhan seien weder Fehler noch Vertuschung beim Weg des Erregers von der Fledermaus zum Menschen nachzuweisen.
Zwar scheint sich Drosten weiterhin sicher zu sein, dass das Virus gegen Ende 2019 von einer auf dem Huanan Seafood Market verkauften Tierart auf den Menschen überging. Aber er räumte ein, „überrascht“ zu sein, dass chinesische Forscher zuvor gemeinsam mit US-Experten „Gain of Function“-Experimente durchgeführt hatten. Dabei habe man in Fledermausviren neue Proteine eingebaut, die bewirkten, dass sich die Viren besser vermehren konnten.
Zum Teil fanden die Versuche im Virologischen Institut in Wuhan (WIV) statt. Zur Frage nach den Sicherheitsvorkehrungen sagte Drosten, die Projektberichte enthielten „nicht alle Details“. Der Charité-Wissenschaftler deutete an, es zu bedauern, dass er einst für Kollegen „seine Hand ins Feuer“ gelegt hatte, und forderte den „Willen Chinas“ ein, nähere Daten zu liefern.
Neuer Recherchebericht zum Ursprung des Coronavirus
Das aber gilt als immer unwahrscheinlicher. Mehrmals gängelte Peking die Weltöffentlichkeit, am deutlichsten bei einer Faktenfindungsmission der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Wuhan im Februar 2021. Nicht einmal die „richtigen“ Laboratorien durften die WHO-Abgesandten damals besuchen. Dafür lässt die Kette der Indizien, die für einen nicht natürlichen Ursprung sprechen, niemanden los, der sich näher damit beschäftigt.
Am bislang überzeugendsten legen diese Kette die US-Forscherin Alina Chan und der Wissenschaftsautor Matt Ridley in ihrem Buch „Viral“ (Verlag Harper Collins) frei. Der bisher nur auf Englisch erschienene Recherchebericht lag zum Zeitpunkt von Drostens Sinneswandel bereits vor. Chan und Ridley spinnen darin keine Verschwörungstheorie von einer absichtlich in die Welt gesetzten Biowaffe oder Ähnliches. Folgt man ihnen, stellt sich die These vom Laborunfall aber als eine durchaus logische Variante dar.
Oftmals schon büxten Erreger aus. 1967 starben sieben Menschen an Ebola-ähnlichen Viren, mit denen Versuchsaffen in Marburg infiziert waren. Bei der kleinen Sars-1-Pandemie von 2003 reisten Forscher, die das Virus bereits in sich trugen, mit dem Flugzeug beziehungsweise mit Fernzügen.
Beim aktuellen Sars-CoV-2 konzentrieren sich die Ermittlungen auf Höhlen und Bergwerke in Südchina. Dort leben Myriaden von Fledermäusen, natürliche Träger von Coronaviren. Dutzende Male legten seit etwa 2005 Wissenschaftler aus Wuhan die Distanz von mehr als 1000 Kilometern zurück, um in dicht bewaldeten Gegenden von Tier und Mensch Viren zu entnehmen. Sars-1 hatte sie alarmiert. 2012 starben drei Arbeiter, nachdem sie in einem Bergwerk mit Fledermauskot hantiert hatten.
Forscher wollten Viren im Labor verändern
Analysiert und auch bearbeitet wurden die Proben im WIV, einem führenden Institut in China. Einer der gefundenen Virentypen, genannt RaTG13, weist 96 Prozent Übereinstimmung mit dem heutigen Quälgeist auf.
Die WIV-Datenbank mit rund 15.000 Virenproben ist seit September 2019 für Außenstehende nicht mehr zugänglich. Nachvollziehbar, weil teils in hochrangigen Wissenschaftsjournalen veröffentlicht, sind aber viele Experimente mit den Coronaviren aus Südchina, die im Laufe der Jahre stattfanden. Häufig stand der Name der WIV-Starwissenschaftlerin Zheng-Li Shi darunter, oft auch jener ihres US-amerikanischen Kooperationspartners Peter Daszak. Einige Male finanzierten US-Steuerzahler die Versuche.
Weltweit probierten Forscher zu jener Zeit, Viren im Labor zu verändern. Sie wollten herausfinden, unter welchen Umständen Erreger gefährlicher werden könnten. Manche Fachkollegen kritisierten das schon damals als ein unverantwortliches Spiel mit dem Feuer. Shi und Daszak waren also bei Weitem nicht die Einzigen, die diese Richtung verfolgten. Zu dem wissenschaftlichen Ehrgeiz, der stets ein legitimes Leitmotiv ist, kam bei Daszak möglicherweise eine privatwirtschaftliche Seite hinzu. Der gebürtige Brite, ein Zoologe, gehört keiner Universität an, sondern leitet eine Organisation namens Eco Health Alliance, die auf Sponsoren und Forschungsgelder angewiesen ist.
Großes Misstrauen von Chan und Ridley zieht die Tatsache auf sich, dass das pandemische Sars-CoV-2 eine Proteinkonstruktion besitzt, die sämtliche der mit ihm enger verwandten Coronaviren nicht haben. Diese sogenannte Furinspalte erleichtert es Sars-CoV-2, Atemwegszellen zu infizieren. Könnte sie ein Resultat der Laborexperimente sein? „Viral“ liefert keinen Beweis. Die Autoren merken aber an, dass Shi an einer Labor-Manipulation der Furinspalte bei einem anderen Coronavirus beteiligt war.
Immer wieder neue Spekulationen
Shi ist lange nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten. In einem ihrer seltenen Interviews beteuerte sie, nachgeprüft zu haben, ob das Virus aus ihrem Labor entwichen sein könnte. Das sei nicht der Fall. Daszak hat Erklärungen mehrerer Wissenschaftler initiiert beziehungsweise unterschrieben, die die Möglichkeit eines Laborunfalls als Pandemieursache als Hirngespinst darstellen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Für und Wider ist von ihm nicht bekannt.
Auf der anderen Seite tauchen immer wieder neue Spekulationen auf. Das „Wall Street Journal“ etwa will erfahren haben, dass drei WIV-Mitarbeiter im November 2019 plötzlich ins Krankenhaus mussten. Der Grund ist unbekannt. Widerlegt hat den Bericht noch niemand. Aus Sicht der Verfechter der vorherrschenden Annahme, Sars-CoV-2 sei auf natürlichem Weg vom virenverseuchten Süden in die Metropole Wuhan gewandert, gibt es drei Möglichkeiten. Der Erreger könnte in gefrorenem Fleisch mitgereist sein. Ein „Indexpatient“, ein Jäger etwa, mag ihn nach Wuhan gebracht haben. Oder eine andere Tierart, die am Seafood Market angeboten wurde, diente als natürlicher „Zwischenwirt“.
Während die ersten beiden Theorien als schwer nachvollziehbar gelten, genießt die dritte den Status einer weltweiten, offiziellen Hauptthese. Ihr Defizit ist bloß, dass bis heute, trotz extensiver Analysen, kein am Markt von Wuhan angebotenes Tier gefunden wurde, das Sars-CoV-2 in sich trägt – weder Schuppentiere noch Zibetkatzen noch Marderhunde. Letztere hat Drosten besonders in Verdacht.
Blockade und Geheimnistuerei
Kürzlich berichteten drei Studien im Fachjournal „Nature“ von Abschnitten auf dem Marktgelände, in denen das Virus häufiger nachgewiesen worden sein soll als an anderen Ständen. Das werteten manche Berichte als Beweis dafür, dass die Pandemie über tierische Zwischenwirte ausgelöst wurde. Von „Nature“ befragte Wissenschaftler sind sich da nicht so sicher. Keine der Studien spreche dagegen, dass der berüchtigte Markt nur eine Station auf dem Weg des Erregers in die Welt war. Jedenfalls existieren Hinweise, dass das Virus bereits vor dem Ausbruch um die Jahreswende 2019/2020 in Wuhan im Umlauf war.
Unter anderem die WHO und die USA ermitteln weiter nach dem Ursprung. Gerne würden sie Einblick in chinesische Originalquellen nehmen und die entsprechenden Personen befragen. Doch es regiert Geheimnistuerei. Mehrmals haben Journalisten zum Beispiel versucht, die Höhlen und Minen im Süden des Landes zu inspizieren. Sicherheitskräfte unterbanden die Recherchen.