Sommerwelle durch neue Omikron-Variante „Bald mehr Geimpfte als Ungeimpfte im Krankenhaus“: Modellierer sagt, wie gefährlich BA.5 ist

Sommerwelle durch neue Omikron-Variante „Bald mehr Geimpfte als Ungeimpfte im Krankenhaus“: Modellierer sagt, wie gefährlich BA.5 ist

23. Juni 2022 Aus Von MVP-WEB Team

Über Deutschland rollt eine neue Corona-Welle – und das ausgerechnet im Sommer. Auslöser dafür ist die infektiöse BA.5-Variante. Corona-Modellierer Kristan Schneider erklärt, welche Gefahr von ihr ausgeht und warum er die derzeitige Corona-Politik für verantwortungslos hält.

Die Corona-Zahlen steigen. Dank der noch ansteckenderen Sublinien BA.4 und BA.5 scheint der Sommereffekt mit niedrigen Fallzahlen, der sich in den vergangenen zwei Jahren zeigte, wie Eis in der Sonne zu schmelzen. Die bundesweite Inzidenz liegt mittlerweile bei über 500 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Allein am Dienstag vermeldete das RKI 123.097 Neuinfektionen. Aufgrund des geringeren Testaufkommens dürfte die Dunkelziffer aber deutlich höher liegen. Keine guten Voraussetzungen für den Herbst also.

Kristan Schneider: „Die Maskenpflicht in Innenräumen abzuschaffen, war ein Fehler“

Das sieht auch der Mathematik-Professor und Corona-Modellierer Kristan Schneider von der Hochschule Mittweida so. Trotz geringerem Testaufkommen in vielen Ländern wie beispielsweise Dänemark würde auffallen, dass die Zahlen steigen. Diese Entwicklung hält er für gefährlich: „Dass jetzt praktisch gar nicht mehr getestet wird, etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz, halte ich für falsch“, sagte er im Interview mit „ T-Online “.

Dass im Moment kaum Maßnahmen in Deutschland bestehen, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten, sieht Schneider daher kritisch: „…die Maskenpflicht in Innenräumen abzuschaffen, war ein Fehler“, so der Mathematiker. Da hilft auch der Impfstatus in Deutschland mit knapp über 76 Prozent Grundimmunisierten und 61 Prozent Geboosterten nicht viel: „Das spielt bei BA.5 nur noch eine untergeordnete Rolle, denn diese Variante umgeht den Impfschutz weitgehend“, so Schneider weiter gegenüber „T-Online“.

Verfügbare Impfstoffe schützen noch weniger gegen BA.4 und BA.5 als gegen BA.2

Darauf deuten tatsächlich bereits mehrere Studien hin. Forscher der Ohio State University beispielsweise haben die Wirksamkeit von zweifach und dreifach Geimpften unter anderem gegenüber den Varianten BA.4 und BA.5 untersucht. Dabei zeigte sich, dass eine Grundimmunisierung mit zwei Dosen der bei uns gängigen mRNA-Impfstoffe Biontech/Pfizer und Moderna nicht ausreicht, diese Varianten zu neutralisieren. Nur Geboosterte haben einen besseren Schutz – aber der ist deutlich niedriger als gegenüber den Varianten BA.1 und BA.2.

Schon bei der Omikron-Variante BA.2 sind viele Geimpfte und Geboosterte in den vergangenen Monaten erkrankt. Das bedeutet, dass bei BA.4 die Impfung also noch weniger gegen eine Infektion und eine Erkrankung vorhält als gegen BA.2. Vor allem, wenn sie schon länger zurückliegt.

Das könnte auch der Fall in Portugal gewesen sein. Das Land hat in den vergangenen zwei Monaten eine heftige Welle erlebt, trotz einer hohen Impfquote. Wissenschaftler mutmaßen, dass der Anstieg der Todesfälle dort damit zusammenhängen könnte, dass bei vielen älteren Menschen der Booster schon eine Weile zurückliegt und sie noch keinen neuen erhalten haben.

Schneider: Mehr Krankenhaus- und mehr Todesfälle sind logische Konsequenz

Schneider glaubt daher, dass BA.5 auch bei uns für Unheil sorgt: „Wir werden damit in den nächsten Wochen das Phänomen sehen, dass mehr Geimpfte als Ungeimpfte in den Krankenhäusern behandelt werden müssen“, äußerte er sich weiter gegenüber „T-Online“.

Das sei laut Schneider eine „logische Konsequenz. „Die Masse der Menschen ist geimpft, doch BA.5 unterläuft diesen Schutz. Angesichts des hohen Infektionsgeschehens und der hohen Infektiosität wird das Virus dann doch wieder bei den vulnerablen Gruppen ankommen. Auch bei solchen, bei denen die Impfung nicht oder nicht vollständig gewirkt hat“, erläutert er.

Deshalb glaubt er auch, dass die Zahl der Todesfälle zunehmen wird, wenn auch auf niedrigem Niveau. „Würde man die portugiesische Sterblichkeitsrate auf Deutschland umrechnen, hätten wir etwa 300 Tote am Tag in der BA.5-Welle. Das hatten wir zuletzt im April. Die Frage ist, ob man damit leben will.“

Virologe Weber: Weiterer Anstieg der Infektionszahlen könnte zu mehr Todesfällen führen

Dass die Mortalität durch BA.5 wieder zunehmen wird, schließen auch andere Experten nicht aus. „Es ist durchaus möglich, dass der momentane Anstieg noch eine Weile anhält und auch zu einer Zunahme an Todesfällen führt – so wie es in Portugal zu beobachten ist“, sagt beispielsweise Friedemann Weber, Virologe von der Universität Gießen, gegenüber FOCUS Online.

Weber geht aber nicht davon aus, dass uns BA.5 auf das Niveau der ersten Wellen zurückwirft: „Wir haben dank Impfungen und auch wegen vorheriger Infektionen eine gewisse Populationsimmunität und sind deshalb weit von den Größenordnungen entfernt, die es im Winter 2020/21 gab“, erläutert er.

Schneider: „Die derzeitige Corona-Strategie ist verantwortungslos“

Epidemie-Modellierer Schneider sieht dennoch dringenden Handlungsbedarf. Erst etwas zu tun, wenn die Hospitalisierungraten wieder steigen, hält der Wissenschaftler für falsch: „Wenn man die sieht, ist es schon zu spät“, so Schneider bei „T-Online“. „Im August steigt die Übertragbarkeit wieder kontinuierlich bis Jahresende an und wir werden mit entsprechend hohen Infektionszahlen konfrontiert sein“, prognostiziert er . „Wir brauchen jetzt wieder eine einheitliche Teststrategie“, fordert er. Besonders dann, wenn Reiserückkehrer wieder eine größere Rolle spielten.

Corona ungebremst durch das Land rauschen zu lassen, wie es jetzt der Fall ist, lehnt Schneider ab: „Die derzeitige Corona-Strategie ist verantwortunglos“, beklagt er. Denn ob eine Durchseuchung tatsächlich die Immunität in der Bevölkerung verbessert, sei fraglich: „..es ist bekannt, dass man sich mit dieser Variante [BA.5] erneut infizieren kann und kein anhaltender Immunschutz aufgebaut wird. Und dann wissen wir auch nicht, ob uns eine neue oder bekannte Variante im Herbst heimsucht“, so Schneider weiter.

BA.5 verursacht möglicherweise schwerere Verläufe als BA.2

Hinzu kommt, dass Virologen derzeit nicht ausschließen, dass die neuen Varianten wieder schwerere Covid-19-Erkrankungen auslösen könnten als BA.2 es getan hat. „Ich halte es für möglich, dass BA.5 wieder etwas pathogener sein könnte, aber das ist abschließend nicht geklärt“, sagt Ciesek im neuesten NDR-Podcast . Grund dafür sind die Mutationen an den Schlüsselstellen des Spike-Proteins, die es dem Virus ermöglichen, wieder leichter in die Lungenzellen einzudringen und sie zu infizieren. BA.2 dagegen konnte besser in die Schleimhäute der oberen Atemwege eindringen.

Dennoch glaubt Ciesek aufgrund der veränderten Immunität in der Bevölkerung auch nicht, dass die neue Variante mehr Schaden anrichten kann als vor zwei Jahren, als es noch keine Impfungen, antiviralen Medikamente und monoklonalen Antikörper gab.

Schneider: Vierte Impfung könnte Welle abflachen

Eine vierte Impfung für alle, wie Karl Lauterbauch sie gerade empfiehlt, befürwortet Kristan Schneider dennoch – obwohl ihre Wirksamkeit gegenüber den neuen Varianten reduziert ist: „Das halte ich für vernünftig, auch wenn es dafür bislang keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission gibt“, sagt er.

Die Stiko empfiehlt den zweiten Booster bisher nur bestimmten Gruppen, darunter

  • Menschen mit unterdrücktem Immunsystem
  • Pflegeheimbewohner
  • Menschen ab 70 Jahren und
  • medizinisches Personal.

Schneider ist davon überzeugt, dass der vierte Pieks helfen könnte, einen weiteren Anstieg zu vermeiden: „Die Impfung bietet zumindest einen vorübergehenden Schutz und kann die Welle abflachen.“