Habeck zu Energiekrise „Müssen uns auf das Schlimmste einstellen“
9. Juli 2022Mit Blick auf den drohenden Ausfall von Gaslieferungen warnt Wirtschaftsminister Habeck vor einer „Zerreißprobe, die wir lange so nicht hatten“. Die Energieknappheit könnte Deutschland noch jahrelang beschäftigen, glaubt Kanzler Scholz.
Bundeskanzler Olaf Scholz geht davon aus, dass Maßnahmen gegen Energieknappheit auch über den kommenden Winter hinaus notwendig sein werden. In einer Videobotschaft sagte der SPD-Politiker: „In diesen Tagen beschäftigt uns die Sicherheit unserer Energieversorgung. Sie wird es noch die nächsten Wochen, Monate und auch Jahre.“
Es ist nicht die erste Warnung von Scholz in dieser Woche. Am vergangenen Montag hatte er die Bürger bereits auf eine lang anhaltende Krise mit hohen Preisen eingestimmt. In seiner Botschaft betonte er nun, die Bundesregierung habe bereits binnen kurzer Zeit viele Entscheidungen getroffen, damit Deutschland gut vorbereitet sei auf Mangellagen, etwa wenn es um Gas gehe. „Wir bauen Pipelines, Flüssiggasterminals. Wir sorgen dafür, dass eingespeichert wird in unsere Gasspeicher. Und wir sorgen dafür, dass jetzt Kohlekraftwerke genutzt werden, damit wir Gas sparen.“
Noch drastischere Worte wählte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der angesichts des drohenden Ausfalls von Gaslieferungen aus Russland vor einem „politischen Albtraum-Szenario“ warnte. Dieses träte ein, wenn der Staat im akuten Krisenfall die Zuteilung von Gas steuern müsste, sagte der Grünen-Politiker dem Deutschlandfunk. Er mache sich „keine Illusion“, was dann passieren werde: „Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten.“
Eine solche Notlage müsse etwa durch das Einsparen und Einspeichern von Gas verhindert werden, sagte Habeck. Ein akuter Gasmangel würde die gesellschaftliche Solidarität „bis an die Grenze und wahrscheinlich darüber hinaus“ strapazieren. Der Minister betonte, dass im Krisenfall laut europäischer Rechtsnorm in den privaten Gasverbrauch sowie die kritische Infrastruktur wie Krankenhäuser und Altenheime „als Allerletztes“ eingegriffen werde.
„Auf das Schlimmste einstellen, für das Beste arbeiten“
Die Preisanpassungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher würden „hart werden und für einige Menschen auch zu hart“, sagte Habeck. „Ich will da keinen Hehl daraus machen: Ich glaube, ohne weitere politische Flankierung zerreißen wir oder sagen wir, wird die Spaltung, die soziale Spaltung, dort zu stark befördert.“ Über weitere Entlastungen werde derzeit in der „Konzertierten Aktion“ zwischen Regierung und Sozialpartnern gesprochen.
Dem russischen Energielieferanten Gazprom warf Habeck vor, unter „fadenscheinigen Gründen“ die Gaslieferungen nach Deutschland reduziert zu haben. Unklar sei, wie es nach den am Montag beginnenden Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1 weitergehen werde. „Alles ist möglich, alles kann passieren“, sagte Habeck. „Es kann sein, dass wieder mehr Gas fließt, auch mehr als davor. Es kann aber auch sein, dass gar nichts mehr ankommt.“ Der Minister riet: „Wir müssen uns ehrlicherweise immer auf das Schlimmste einstellen und ein bisschen für das Beste arbeiten.“
Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller stimmte ebenfalls auf eine länger dauernde Krise ein. „Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer“, sagte er dem Nachrichtenmagazin „Focus“. Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbrauchern noch gar nicht angekommen. „Das kann für eine Familie schnell eine Mehrbelastung von 2000 bis 3000 Euro im Jahr bedeuten. Da ist die nächste Urlaubsreise oder die neue Waschmaschine dann oft nicht mehr drin.“ Deutschland drohe eine „Gasarmut“.
Linke-Parteichef Martin Schirdewan forderte im Gespräch mit der Funke Mediengruppe eine gezielte Unterstützung einkommensschwacher Haushalte mit einem „sozialen Klimabonus“ von 125 Euro pro Monat plus 50 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied. Außerdem sprach er sich für eine Deckelung der Energiepreise aus, „damit die Leute im nächsten Winter noch heizen und Fernsehen gucken können“. Finanziert werden solle dies durch eine Übergewinnsteuer.
Sollte die Bundesregierung die dritte und letzte Stufe im Notfallplan Gas ausrufen, agiert die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler – sie entscheidet also, wer wie viel Gas bekommt. Sogenannte geschützte Kunden, darunter auch private Haushalte, haben dann Vorrang. Viele Unternehmen, etwa in der Industrie, erhalten dann aber möglicherweise kein Gas mehr. „Wer nicht aus Solidarität oder im Sinne des Klimaschutzes Gas sparen will, sollte an die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes denken“, sagte Müller.