Gaspipeline Nord Stream 1 – Auf Wartung könnte Lieferstopp folgen
11. Juli 2022Die routinemäßige Wartung der Pipeline Nord Stream 1 hat am Morgen begonnen. Doch liefert Russland danach wieder Gas nach Westeuropa? Diese Frage beunruhigt die Märkte und die deutsche Industrie.
Beginnt der Winter in diesem Jahr schon am 11. Juli? Wird es von diesem Montag an also kalt in den deutschen Wohnungen? Diese ursprünglich scherzhaft gemeinten Fragen auf dem Frankfurter Börsenparkett haben inzwischen einen ernsten Hintergrund. Niemand weiß derzeit genau, ob die am Morgen gestartete Wartung der Pipeline Nord Stream 1 wirklich planmäßig nach elf Tagen vorbei sein wird – oder ob dann aus der regulären Wartung eine politische wird, bei der Russland länger kein Gas mehr durch die Röhre nach Westeuropa liefert. Letzteres befürchtet zumindest die Bundesnetzagentur.
So oder so: Die drohende Gasknappheit hält die Märkte schon seit längerem in Atem. Der deutsche Leitindex DAX hat wegen der Unsicherheit allein im vergangenen Monat zwölf Prozent an Wert verloren. Auch deshalb rechnet Robert Halver von der Baader Bank heute erstmal nicht mit größeren Kursrutschen. „Viele haben den Markt schon verlassen. Die ganz zittrigen Hände sind schon draußen, sodass einiges schon eingepreist ist.“
Trotzdem gehen die Spekulationen darüber weiter, wie hart ein Gasstopp Deutschland treffen könnte. Die Schätzungen gehen dabei weit auseinander, je nachdem, wie lange das Gasembargo anhalten würde.
Ein Modell liefert Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Wenn Norwegen seine Gaslieferungen nach Deutschland verstärke und die deutschen Verbraucher sich einschränkten, „dann können wir ohne Gaslücke, ohne Gasrationierung über den Winter kommen. Aber dann hätten wir die Probleme natürlich im nächsten Jahr“, sagt Holtemöller. Denn: „Wenn die Gaslieferungen dauerhaft ausbleiben, könnten wir im nächsten Sommer die Speicher nicht füllen, und dann hätten wir im Winter 2023/24 das gleiche Problem.“
Andere, noch pessimistischere Modelle sehen im Fall einer längeren Schließung von Nord Stream 1 Verluste in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro auf deutsche Unternehmen zukommen. Besonders hart träfe es dann die Chemiebranche. Mit 15 Prozent ist sie der größte Gasverbraucher in Deutschland.
Die Sorgen bei den Unternehmen seien groß, weil sie kaum Alternativen zu Gas hätten, berichtet Jörg Rothermel vom Verband der Chemischen Industrie. „Es gibt noch einige Unternehmen, die auf Öl- oder Kohlebrenner umstellen können, sofern die genehmigungstechnischen Fragen gelöst sind, aber das sind nur wenige. Die meisten Unternehmen sind vollständig von Gas abhängig.“
Ein längeres Gasembargo würde aber auch an den Finanzmärkten zu heftigen Abstürzen führen. Da sind sich die meisten Finanzexperten sicher. Wahrscheinlich ist dieses Worst-Case-Szenario aus Sicht von Kapitalmarktexperte Halver aber nicht. „Putin ist ein Schachspieler, er ist technisch versiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er komplett dichtmacht. Dann würde er seinen letzten Trumpf abgeben.“