Wartung von Nord Stream 1 Fließt ab morgen wieder Gas?
20. Juli 2022Die bisherigen Vorwände aus Russland sprechen nicht dafür, dass sich die Gaslieferung über Nord Stream 1 ab Donnerstag wieder normalisiert. Was ist am ehesten zu erwarten? Die Szenarien im Überblick.
Schon vor dem 11. Juli, als die Wartung von Nord Stream 1 begann, äußerten Experten die berechtigte Sorge, dass Moskau die zehntägigen Arbeiten an der wichtigsten Gaspipeline nach Deutschland nutzen könnte, um die Gaslieferungen auch weiterhin einzuschränken – oder gar ganz einzustellen.
Tatsächlich hatte der russische Staatskonzern Gazprom schon zuvor die Lieferungen über Nord Stream 1 um 60 Prozent heruntergefahren. Am morgigen Donnerstag kommt es also zum Schwur. Was könnte geschehen – und was wären die wahrscheinlichsten Folgen?
Das normalerweise zu erwartende Szenario ist zugleich das unwahrscheinlichste: Russland würde nach Abschluss der Wartung die Liefermenge wieder auf das vertraglich vereinbarte Normalmaß hochfahren. Das würde es Deutschland erlauben, seine Gasspeicher vor dem Winter komfortabel zu befüllen und sogar bereits für spätere Kälteperioden vorzusorgen.
Dieses „Goldilocks-Szenario“ ist aber auszuschließen. Russland könnte die dann reichlich fließenden Gelder aus dem Westen zwar gut gebrauchen; der Kreml ist sich aber bewusst, dass die Handlungsfähigkeit der Westeuropäer mit jedem Prozent mehr in ihren Gasspeichern zunimmt – bis hin zur Fähigkeit, eines Tages wie bei Kohle und Öl ihrerseits ein Embargo für Gas zu verhängen.
Zwar betont Moskau mit Blick auf die Wartungsarbeiten, Russland wolle seine Verpflichtungen auch künftig erfüllen. Doch die jüngsten Manöver von Gazprom lassen an dieser Botschaft zweifeln. So begründete der Staatskonzern gerade seine seit Mitte Juni gedrosselten Liefermengen mit „höherer Gewalt“, was der größte deutsche Gasimporteur Uniper umgehend zurückwies. Auch der wiederholte Verweis auf die bisher nicht zurückgelieferte Gasturbine von Siemens Energy ist nach Darstellung des Bundeswirtschaftsministeriums ein Vorwand: „Es handelt sich um eine Ersatzturbine. Dennoch tun wir alles, um diesen Vorwand zu nehmen“, sagte eine Sprecherin des Ministeriums am Montag.
Der Präsident der Bundesnetzagentur Klaus Müller erklärte, Russland könne die Liefermengen durch die Ukraine jederzeit erhöhen, um seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. „Dazu fehlt Wladimir Putin aber offenbar der politische Wille.“
Wahrscheinlicher ist also zunächst ein weiteres Taktieren des Kreml und eine Verzögerung von bestimmter oder unbestimmter Dauer. Die genannte Gasturbine wäre kurzfristig die naheliegendste Begründung. Laut der russischen Zeitung „Kommersant“ könnte es noch bis zum kommenden Sonntag dauern, bis die Turbine, die nach ihrer Wartung lange von Kanada wegen der Sanktionen zurückgehalten wurde, in Russland ankommt – sofern es keine Probleme mit der Logistik oder dem Zoll gebe.
Das schwierigste Szenario wäre ein kompletter Lieferstopp über Nord Stream 1 – sei es mit neuen Begründungen oder gar keiner Erklärung seitens Gazprom. Denkbar wäre auch, dass Moskau vertragswidrig neue Bedingungen an weitere Gaslieferungen knüpft, die die Abnehmer nicht erfüllen können oder wollen.
Schon wegen des dann zu erwartenden Preisschocks für Erdgas gehen die meisten Experten in diesem Fall von einer Rezession in Deutschland aus. Folgt man den Berechnungen der Bundesnetzagentur, wäre in diesem Fall auch eine „Gasmangellage“ kaum mehr abzuwenden. Die Folge wäre letztlich die Beschränkung von Gasmengen für die Industrie.
Eine aktuelle Gemeinschaftsdiagnose von vier führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten kommt dagegen zum Schluss, dass selbst bei einem Lieferstopp aus Russland in diesem Jahr kein Gasengpass mehr drohe. Diese Berechnungen sind aber mit großen Unsicherheiten behaftet. So mussten die Experten, die immerhin 1000 Szenarien durchgerechnet haben, eine Reihe von Variablen berücksichtigen – darunter die Entwicklung des inländischen Verbrauchs, die Weiterleitung von Gas an die europäischen Partner und das Bautempo der Flüssiggasterminals.
Gegen einen vollständigen Lieferstopp sprechen aber insbesondere zwei Gründe. Erstens ist der russische Staat dringend auf die Gelder aus dem Gasexport angewiesen, um in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise handlungsfähig zu bleiben und den Krieg in der Ukraine weiter zu finanzieren.
Zweitens würde ein solcher Vertragsbruch ein verheerendes Signal an die anderen Abnehmer russischen Gases wie China oder die Türkei senden. Schon jetzt ist offensichtlich, dass die Energiegroßmacht Öl und Gas als politische Waffen einsetzt. Jeder weitere willkürliche Akt würde die Glaubwürdigkeit Russlands als verlässlicher Partner weiter untergraben.
So bleibt eine Fortsetzung der bisherigen Doppelstrategie des Kreml wahrscheinlich: Einerseits eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen bis zu einem gewissen Grad, um den Staatshaushalt zu entlasten. Gleichzeitig aber der Versuch, mit der Energiewaffe Gas das Maximum an politischem Druck auszuüben.
Für Deutschland hieße das, dass es sich auf absehbare Zeit weiter um eine Energiekrise sorgen und mit weiter steigenden Preisen rechnen muss. Auch alle Anstrengungen, Gas aus anderen Quellen wie verflüssigtem Erdgas (LNG) und über neue Partnerschaften wie mit Aserbaidschan und Ägypten zu beziehen, werden Deutschlands Abhängigkeit vom russischen Gas in den kommenden Jahren nicht ganz beenden können. Das Wirtschaftsministerium strebt an, den Anteil russischer Gaslieferungen bis Ende des Jahres auf etwa 30 Prozent zu senken. Bis Sommer 2024 hält die Bundesregierung einen Rückgang des Anteils auf zehn Prozent des Verbrauchs für möglich. 2021 lag der Anteil russischer Gaslieferungen noch bei 55 Prozent.
Der Wettlauf mit der Zeit um die Füllstände der Gasspeicher bliebe damit weiter offen, wenn auch mit einer realistischen Chance.
Nach dem im März beschlossenen Energiespeichergesetz sollen die Speicher bis zum 1. Oktober zu 80 Prozent und zum 1. November zu 90 Prozent befüllt sein, um eine störungsfreie Gasversorgung im kommenden Winter zu gewährleisten. Aktuell liegt der Füllstand aller Speicher nach Angaben der Bundesnetzagentur bei 65,1 Prozent. Damit liegt er über dem Niveau des vergangenen Jahres, aber noch gut vier Prozentpunkte unter dem Mittel der vergangenen fünf Jahre. Könnte aber das derzeitige Tempo der Befüllung beibehalten werden, wären die angestrebten Zielwerte erreichbar.
Für Verbraucher bleibt die Aussicht, dass sie in diesem Winter voraussichtlich nicht frieren müssen. Sie werden aber sicher tiefer in die Tasche greifen müssen. „Unternehmen und private Verbraucher müssen sich auf deutlich steigende Gaspreise einstellen“, schreibt die Bundesnetzagentur in ihrem aktuellen Lagebericht.