Nachfolge von Hartz IV Was beim Bürgergeld noch strittig ist
28. Juli 2022Das Bürgergeld soll das Arbeitslosengeld II ersetzen – und mehr auf Qualifikation, Kooperation und Vertrauen setzen. An den Plänen von Arbeitsminister Heil gibt es aber Kritik. Was ist geplant – und wo hakt es noch?
Weshalb will die Ampel das Arbeitslosengeld II reformieren?
Bereits im Wahlkampf war von allen drei Parteien der Ampelkoalition Überarbeitungsbedarf angemeldet worden: Das unter dem Kanzler Gerhard Schröder (SPD) 2005 eingeführte Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ist nicht nur in die Jahre gekommen – es gilt schon länger als reformbedürftig. Nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht 2019 Korrekturen angemahnt hat, etwa bei der Sanktionspraxis Jugendliche im Vergleich zu höheren Altersgruppen härter zu behandeln. Und: Es dürfe zwar Sanktionen geben, aber in Maßen. Weil es um das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum geht, also eine Frage der Menschenwürde, dürfen die Sanktionen nicht zu weit gehen.
Die Jobcenter sollen in Zukunft großzügiger mit der Lebenssituation von Leistungsempfängern umgehen, damit diese sich vor allem darum kümmern können, möglichst schnell wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen.
Konkret heißt das: In den ersten zwei Jahren des Bezugs von Bürgergeld sollen Leistungsempfänger in jedem Fall in ihren Wohnungen wohnen bleiben dürfen, diese werden in die Berechnungen nicht miteinbezogen. Danach soll wie bislang auch überprüft werden, ob zum Beispiel die Wohnsituation angemessen ist. Zudem sollen Vermögen von bis zu 60.000 Euro nicht angetastet werden.
Mehr Möglichkeiten und Anreize für Weiterbildung, auch das beinhaltet Heils Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems. Unter anderem sollen Menschen bei Bedarf mehr Zeit für den Erwerb eines Berufsabschlusses bekommen: drei statt bisher zwei Jahre. Die Weiterbildungsprämie soll entfristet werden, Coaching soll ein neues „Regelinstrument zur ganzheitlichen Betreuung“ werden.
Arbeitsminister Heil spricht von einem Systemwandel – warum?
Heil setzt mehr auf das Prinzip Vertrauen, Qualifizierung und Weiterbildung als das Hartz-System bisher. So soll ab Bezug des Bürgergelds eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“ gelten, in der verringerte Leistungen ausgeschlossen sind. Nur wer gar nicht mit dem Jobcenter kooperiert, muss negative Konsequenzen fürchten. Auch nach dieser Frist soll eine Vertrauenszeit ohne feste Mindestdauer folgen – Jobcenter können nur bei „Verletzungen des Vertrauens“ Mitwirkungspflichten verbindlich festlegen.
Und: Der bisherige „Vermittlungsvorrang“ beim Umgang mit Langzeitarbeitslosen soll abgeschafft werden. Das heißt, dass Ausbildung und berufsabschlussbezogene Weiterbildung vor einem Aushilfsjob möglich werden. Bürgergeld-Empfänger und -Empfängerinnen sollen nicht den erstbesten Job annehmen müssen, für den sie überqualifiziert sind und sich lieber weiterqualifizieren. Dafür soll zum Beispiel die Weiterbildungsprämie entfristet werden. „Menschen bekommen Zeit zum Lernen, die sie brauchen“, heißt es in dem Eckpunktepapier des Arbeitsministeriums.
Was passiert mit den umstrittenen Sanktionen?
Große Kritik hatte es in der Vergangenheit immer wieder an den Sanktionen gegeben, die Hartz-IV-Empfänger befürchten mussten, wenn sie sich beispielsweise nicht an Vereinbarungen mit dem Jobcenter halten. Der Bundestag hatte mit Stimmen der Ampel-Farktionen die bisherige Sanktionspraxis bereits ab Mitte Mai ausgesetzt – als Vorgriff auf die Bürgergeld-Reform. Die Grünen hatten im vergangenen Bundestagswahlkampf noch gefordert, die Sanktionen komplett abzuschaffen. Das soll nun nicht passieren.
Aber die Sanktionsmöglichkeiten werden im Entwurf des Arbeitsministers zurückgefahren: Jugendliche müssen keine höheren Leistungsminderungen mehr befürchten als Menschen ab 25 Jahren. Das Prinzip von „Fördern und Fordern“ wird nicht ganz abgeschafft. Allerdings sieht der Vorschlag von Hubertus Heil eine Verringerung der bisherigen Sanktionsmöglichkeiten vor. Aber: „Für Menschen, die chronisch keine Termine wahrnehmen, kann es nach wie vor Rechtsfolgen haben“, so der SPD-Arbeitsminister. Der FDP ist das Instrument sehr wichtig, Sanktionen weiter androhen zu können. „Es ist eine Frage des Respekts, dass es auch künftig einen Unterschied machen muss, wenn eine kleine Minderheit sich nicht an Regeln hält“, schrieb FDP-Vize Johannes Vogel dazu in einem Gastbeitrag für die „FAZ“.
Obwohl das Bürgergeld im Koalitionsvertrag steht, gibt es Streit darüber – warum?
Die FDP unterstützt zwar angesichts des aktuellen Arbeits- und Fachkräftemangels Heils „deutlichen Fokus auf Aus- und Weiterbildung“ sowie kulantere Hinzuverdienstregeln. Doch sowohl am künftigen Umfang der Sanktionen als auch an der Neuberechnung der Regelsätze, wie sie der Arbeitsminister vorschlägt, gibt es Dissens zwischen SPD, Grünen einerseits und der FDP. Der Koalitionsvertrag enthält keine Verabredungen zur Berechnung.
Bisher völlig unvereinbare Positionen zwischen SPD und FDP gibt es deswegen in der Frage, ob der Hartz-IV-Nachfolger eine neue Berechnungsgrundlage bekommt, was zu einer deutlichen Erhöhung führen würde: Das wäre ein Plus von etwa 40 bis 50 Euro im Vergleich zum jetzigen Hartz-IV-Regelsatz von 449 Euro pro Monat. Heil geht damit auf Forderungen der Sozialverbände ein. Die kritisieren, dass das Existenzminimum schon jetzt ohne die kriegsbedingten Preissteigerungen bei Lebenshaltungskosten zu knapp bemessen ist und die Inflation nicht ausgleiche. Heil argumentiert damit, dass die bisher geltende Standard-Anpassung des Regelsatzes den aktuellen Preissteigerungen stets hinterherhinke und diese nicht kompensieren könne.
Die FDP ist dagegen, zusätzliches Geld in eine pauschale, für alle Bürgergeld-Empfängerinnen und -Empfänger geltende Erhöhung des Regelsatzes zu stecken. Nach Vorstellung von Heils Eckpunkten vergangene Woche machte die FDP umgehend klar, dass sie seiner neuen Berechnungsmethodik nicht zustimmen werde. Sie verweist darauf, dass die Regelsätze ohnehin jährlich turnusgemäß an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst würden. Das künftige Bürgergeld solle „eine Aktivierung sein und kein bedingungsloses Grundeinkommen“, so FDP-Chef Christian Lindner.
CDU-Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz gibt sich skeptisch: Er sei „sehr gespannt, ob es überhaupt noch irgendwelche Anreize gibt, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren“. CDU-Vize Carsten Linnemann sieht in den vorliegenden Eckpunkten bereits eine völlige Abkehr vom Prinzips „Fördern und Fordern“. Damit mache die Ampelkoalition Arbeiten noch unattraktiver trotz zwei Millionen freier Stellen – das von Heil vorgestellte Bürgergeld sei falsch verstandene soziale Gerechtigkeit.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch rief die Ampel-Koalition dazu auf, sich hinter das Konzept von Arbeitsminister Heil zu stellen und bei den Regelsätzen nicht der FDP-Forderung nachzugeben. AfD-Vize-Fraktionschef Norbert Kleinwächter hält das Bürgergeld-Konzept für unsozial und plädiert für einen aktivierende Grundsicherung mit Anreiz zur Erwerbsarbeit: „Das Bürgergeld verhöhnt die Berufstätigen, ignoriert die Bedürfnisse der Bedürftigen und bedient ausschließlich die Interessen derer, die vom Sozialstaat nicht aufgefangen werden sollten.“
Die Sozialverbände halten die Reform für keinen großen Wurf, allenfalls „ein Schritt in die richtige Richtung“. Sie begrüßen, dass Langzeitarbeitslose besser unterstützt werden, indem der Vermittlungsvorrang wegfällt und sie nicht mehr gezwungen werden, jede Arbeitsstelle anzunehmen. Auch das begleitende aufsuchende Coaching für die Arbeitssuchenden ist sinnvoll.
Doch sie fordern eine deutlichere Erhöhung der Regelsätze: „Ohne eine Erhöhung geraten die Menschen in existenzbedrohende Notlagen, sagt etwa die Diakonie Deutschland. Hier müsse die Bundesregierung dringend nachbessern.
Wie ist der Zeitplan zur Einführung des Bürgergeldes?
Das Ziel des Arbeits- und Sozialministers ist die Einführung des neuen Bürgergeldes zum 1. Januar 2023. Dies wird auch von Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützt. Heil hält sein Bürgergeld-Konzept innerhalb der Ampelkoalition für weitestgehend geeint. Details werden nun im Kabinett und Ressortabstimmung geklärt – und vermutlich auch im nächsten Koalitionsausschuss. Die von Heil angedachte Neuberechnung der Regelsätze muss im Herbst parlamentarisch beraten werden, dann wird auch der neue Bundeshaushalt in parlamentarischen Beratungen festgezurrt.
Das Gesetz ist zustimmungspflichtig – und muss deswegen auch vom Bundesrat mehrheitlich unterstützt werden. So wird Heil auch bei Union und den Bundesländern für seine Reform noch werben müssen.