Vorbereitung einer weiteren „Säuberung“?
7. August 2022In einer Rede an die Regierung hat Russlands Präsident Putin massive Drohungen gegen Kriegsgegner ausgestoßen. Der Osteuropa-Experte Meister sagt, Putin bereite sein Land damit auf möglicherweise noch härtere Repressionen vor.
tagesschau.de: Der russische Präsident spricht in einer denkwürdigen Rede von „Gesindel“, Verrätern“, vergleicht diese mit „Mücken“, die man einfach „ausspuckt“, sein Sprecher droht mit „Säuberungen“ – wie deuten Sie diese Äußerungen?
Stefan Meister: Das erinnert an stalinistische Säuberungsrhetorik. Putin hat auch den Begriff der 5. Kolonne benutzt, der in den 1930er-Jahren verwendet worden ist, um damals das Vorgehen gegen alle „anti-russischen“ Elemente zu begründen. Putin wendet das gegen alle, die für den Westen arbeiten oder seiner Politik und seiner Person kritisch gegenüberstehen. Das ist alarmierend, weil das möglicherweise eine weitere „Säuberung“ im Land vorbereitet und zugleich die Wagenburg-Mentalität im Land stärken soll. Ich befürchte, dass wir ein noch autoritäreres Regime nach innen erleben werden. Wir sehen kein Kompromissangebot, keinen Versuch der Öffnung, sondern eine Verhärtung Putins.
Stefan Meister ist Programmleiter Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zu seinen Schwerpunkten zählen die russische Außen- und Sicherheitspolitik und die Beziehungen zwischen Russland und der EU.
Rede mit scharfen WortenIn einer Rede vor seiner Regierung, die im Fernsehen übertragen wurde, hat Präsident Wladimir Putin am Mittwoch den Militäreinsatz in der Ukraine mit harten Worten verteidigt. Er verglich dabei den Westen und seine Sanktionen gegen Russland mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs.
„Jedes Volk, das russische Volk ganz besonders, wird immer in der Lage sein, das Gesindel und die Verräter zu erkennen und sie auszuspucken, wie man eine Fliege ausspuckt, die einem in den Mund geflogen ist. Ich bin sicher, dass eine solche echte und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land nur stärken wird“, sagte der Kreml-Chef unter anderem.
Nach der Rede griff Kreml-Sprecher Dmitri Peskow die Rhetorik auf und erklärte, der Einsatz ermögliche die „Säuberung“ Russlands von „Verrätern“. „In solchen Situationen erweisen sich viele Menschen als Verräter und gehen von selbst aus unserem Leben“, sagte Peskow am Donnerstag. „Das ist eine Läuterung. Andere verstoßen gegen das Gesetz und werden gesetzeskonform bestraft“, fügte er hinzu.
Seit dem Beginn des Militäreinsatzes vor mehr als drei Wochen hat eine große Zahl von Russen ihre Heimat verlassen. „Aber viele Menschen wollen wirklich unseren Präsidenten unterstützen, und das ist die überwältigende Mehrheit“, erklärte Peskow weiter.
tagesschau.de: Welche weiteren autoritären Schritte erwarten Sie?
Meister: Ich rechne damit, dass das, was 2012 mit Beginn der dritten Amtszeit Putins begann und durch die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass 2014 verstärkt wurde, weitergeführt wird. Alle unabhängigen Medien wurden geschlossen, eine kritische Berichterstattung ist verboten, die Opposition mundtot gemacht und eingesperrt worden, und jeder, der diesen Krieg und Putin kritisiert, wird von der Straße geholt.
Ich befürchte, dass man noch mehr über das Internet versuchen wird, Kritiker zu identifizieren und sie möglicherweise abholen, man wird die Leute dazu bringen, ihre Nachbarn zu denunzieren. Für jede kritische Stimme heißt das, dass sie jederzeit ins Gefängnis kommen kann und durch das Regime unterdrückt wird.
tagesschau.de: Spricht aus Putin Wut über den Kriegsverlauf und über die Proteste in Russland, kommt hier eine grundsätzliche Haltung heraus oder ist das ein klassisches Stück Propaganda?
Meister: Wir hören hier einen wütenden Putin, der sich am Westen und vor allem an den USA rächen will. Aus seiner Sicht kämpft er in der Ukraine gegen Stellvertreter der USA. Putin fürchtet vor allem eine Farben-Revolution nach ukrainischem Vorbild und einen Regimewechsel im Inland. Die Menschen, die 2013 und 2014 auf den Euro-Maidan in Kiew gegangen sind, bringt er mit seinen Kritikern in Russland in Verbindung.
Sicher geht es auch darum, die Leute in Russland auf härtere Zeiten einzustimmen. Aber es bereitet vor allem darauf vor, dass gegen die „Agenten des Westens“ in Russland noch härter vorgegangen werden soll. Es ist die Vorbereitung einer „Säuberung“ mit allen Mitteln.
An der Sprache Putins hat sich nichts verändert. Er kommt aus einem Petersburger Hinterhof, er spricht eine vulgäre Sprache, und sobald er emotional wird, verfällt er noch stärker in sie und verwendet Kraftausdrücke. Da ist er sich aber treu geblieben. Allerdings macht er jetzt, worüber er immer geredet hat und nimmt diese Revanche – in der Nachbarschaft, in Russland und gegenüber den USA.
tagesschau.de: Sie haben einen Kontext zu Stalinismus, zu den 1930er-Jahren hergestellt. Wie wird das in der russischen Gesellschaft aufgenommen?
Meister: Russland hat die stalinistische Vergangenheit nie tiefgreifend aufgearbeitet. Es gab zwar einzelne Organisationen wie Memorial, die versucht haben, ein Bewusstsein für den Terror jener Jahre zu schaffen. Aber Putin hat das irgendwann beendet. Für ihn war eher Lenin ein Problem, wie er in einer Rede zu Kriegsbeginn sagte.
Stalin ist für ihn eher der Held, der den Zweiten Weltkrieg gewann. Putin sieht sich in seiner Tradition, aber auch in der zaristischen Tradition. Ein Teil der Gesellschaft wird jetzt sicher alarmiert sein, dass es wieder in Richtung der stalinistischen Ära gehen wird. Aber er wird einen Teil der Gesellschaft auch mobilisieren – gegen Elemente, die aus Putins Sicht fremd sind.
Ich kann mir vorstellen, dass dies bei nicht wenigen Menschen in Russland auf Zustimmung stößt. Es kann mehr Patriotismus auslösen, Nationalismus verstärken, eine anti-westliche Phobie – die ja schon da ist und die in den vergangenen zehn Jahren massiv geschürt worden ist. Die historischen Narrative, die man über die Propaganda aufgebaut und gestärkt hat, werden jetzt abgerufen. Der Kampf gegen die Faschisten, die 5. Kolonne als Begriff der Stalinzeit – all das ist im kollektiven Gedächtnis vorhanden – nicht als etwas, was man aufarbeiten müsste, sondern als etwas, das notwendig war, um den Zweiten Weltkrieg und gegen den Nationalsozialismus zu gewinnen. Der Genozid-Vorwurf bezieht sich auf die Behauptung, dass in Bosnien ein Völkermord begangen worden ist, dem Russland widerspricht. Diesen gleichen Vorwurf verwendet es jetzt für den Donbass, obwohl hier überhaupt kein Zusammenhang besteht und dieser haltlos ist.
tagesschau.de: In den USA wird darüber debattiert, ob Putin immer schon so war oder ob er auch durch Fehler des Westens – Stichwort NATO-Osterweiterungen – dahin gebracht worden ist. Wie sehen Sie es?
Meister: Ich glaube, dass Putin sich in seinem Denken und seiner Rhetorik radikalisiert hat. Gleichzeitig waren diese Dinge aber in ihm angelegt. Er ist ein Kind des Geheimdienstes, ein Kind der Sowjetunion, er war Ende der 1980er-Jahre in Dresden eingesetzt und erlebte dort die Proteste der Wende-Zeit und hatte Angst, dass es ihn das Leben kosten könne. Das hat ihn geprägt und erklärt seine Angst vor Farben-Revolutionen. Und er hat immer einen tiefen Hass auf die USA gehegt.
Sein Weltbild war immer totalitär, es fehlt ihm jede Empathie für Menschen, für gesellschaftliche Prozesse. Das ist durch Erfahrungen mit den USA, die ihm in seiner Sicht nicht den nötigen Respekt gezollt haben, und mit der sich nach Osten ausdehnenden NATO verstärkt worden – aber vor dem Hintergrund der eigenen Prägung. Und jetzt kann er Revanche üben für den Untergang der Sowjetunion, für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien. Er rächt sich dafür, dass die Amerikaner damals „gewonnen“ haben. Und jetzt kann er gegen die Amerikaner in der Ukraine gewinnen.
tagesschau.de: Das aber verhieße für Verhandlungen über eine Waffenruhe oder einen Friedensschluss nichts Gutes.
Meister: Ich bin sehr skeptisch, dass Russland tatsächlich ein Interesse hat, einen Kompromiss zu finden, der für die Ukraine akzeptabel ist. Putin will die Ukraine als Staat und Gesellschaft zerstören. Er glaubt fest daran, in der Ukraine gegen Faschisten zu kämpfen.
Und eine Neutralität unter seinen Bedingungen ist etwas völlig anderes als das, was wir unter Neutralität verstehen. Für Putin bedeutet dies ein dysfunktionaler Staat, der Teil des russischen Einflussbereiches ist und von einer Regierung geführt wird, die pro-russisch ist und Putins Narrativ einer russischen Welt, der die Ukraine angehört, anerkennt.
Natürlich hängt viel vom Kriegsverlauf ab. Aber ich bin skeptisch, ob Putin selbst daran interessiert ist, zu einem Kompromiss zu kommen. Ich befürchte, dass es vor allem ein Manöver ist, um sich Verhandlungsoptionen zu eröffnen, und dann wird der Krieg genau so brutal weitergeführt wie bisher. Bis zum russischen Sieg – koste es, was es wolle.