Italien nach der Wahl „Meloni sieht, was mit Ungarn passiert“
26. September 2022Italien nach der Wahl „Meloni sieht, was mit Ungarn passiert“
Europa blickt mit großen Sorgen nach Italien. Der Politikexperte De Petris gibt sich nach dem Wahlsieg Melonis aber gelassen: Sie habe sich vor allem als konservative Politikern profiliert und werde Italien nicht in die Lage Ungarns bringen.
tagesschau.de: Was hat die Mehrheit der Wahlberechtigen in Italien dazu bewogen, für Giorgia Meloni und ihre Partei beziehungsweise für das von ihr angeführte Rechtsbündnis zu stimmen?
Andrea De Petris: Der wichtigste Grund war die Unzufriedenheit. Viele Italienerinnen und Italiener hatten in den vergangenen Jahren Sorgen und Angst – erst wegen der Pandemie, dann wegen der Wirtschafts- und Energiekrise und des Kriegs in der Ukraine. Die letzten drei Regierungen waren nicht in der Lage, ihnen ein Sicherheitsgefühl in diesen Krisen zu geben. Die Regierung von Mario Draghi hat sich darum sehr bemüht, aber die Resultate haben nicht gereicht, um diese Unzufriedenheit zu mindern. Dann suchen die Wähler nach anderen Lösungen.
Meloni war in den vergangenen Jahren in der Opposition und hat das gut benutzt, um sich von der Politik der vergangenen Jahre zu distanzieren. Ihre Botschaft war, dass, wer wirklich einen Neuanfang will, für sie stimmen müsse.
Professor Andrea De Petris ist Wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP) in Rom.
„Nie richtig vom Faschismus distanziert“
tagesschau.de: Meloni wird hierzulande mal als Postfaschistin bezeichnet, mal als Rechtsnationale – welches Etikett beschreibt sie Ihrer Meinung nach am besten?
De Petris: Wir müssen hier zwischen Meloni und ihrer Partei und deren Anhängern unterscheiden. Meloni ist 1977 geboren, also mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende des Faschismus in Italien. Und heute ist diese Zeit für viele Italiener weit entfernt. Meloni hat aber immer wieder mit der Erinnerung an diese Zeit gespielt und sich nie richtig davon distanziert.
Es gibt in der Partei immer noch bestimmte Symbole wie die lodernde Flamme im Parteiemblem, und auf ihren Parteienveranstaltungen hat sie fragwürdige Parolen benutzt, die mit dem Faschismus in Zusammenhang stehen. In der Anhängerschaft der Partei gibt es Elemente, die man postfaschistisch nennen kann. Nun ist die Frage, welche Richtung Meloni als Ministerpräsidentin einschlagen wird. Aber das wissen wir heute noch nicht.
tagesschau.de: Aber die Wähler hat diese Unschärfe, die Sie beschreiben, nicht davon abgehalten, für die Partei zu stimmen?
De Petris: Es verhält sich umgekehrt: Genau deswegen haben ihre Wähler für sie gestimmt, weil sie nie eine richtige Verteidigerin der faschistischen Vergangenheit war, aber sich auch nicht richtig distanziert hat. Und diese Unklarheit hat dazu geführt, dass sie als konservative, katholische Frau wahrgenommen wird. Das hat sie immer wieder betont.
Ihre Schlagworte waren Gott, Vaterland und Familie. Das sind Werte, die sie sonst vor allem in einer konservativen Partei finden. Wenn sie vom Faschismus gesprochen hat, war ihr Tenor, dass das Vergangenheit sei, sie damit nichts zu tun habe und auch keine neue faschistische Regierung einführen wolle. Und ich glaube, die meisten Wählerinnen und Wähler haben sie gesucht, weil Meloni und die „Brüder Italiens“ die Partei der Unzufriedenen dargestellt hat.
„Historische“ Parlamentswahl in Italien: Rechtes Bündnis siegt
Konkrete Festlegungen bislang vermieden
tagesschau.de: Was ist von Giorgia Meloni als Ministerpräsidentin zu erwarten? Wie wird sie die Unzufriedenen bedienen?
De Petris: Das ist schwer zu beantworten, weil Meloni bislang vermieden hat, zu sagen, wie sie auf die drängendsten Probleme der Italiener reagieren wird. Sie hat von gewissen Änderungen im Rentensystem gesprochen oder von einer Steuerreform. Das sind Slogans, die in einem Wahlkampf funktionieren können, aber von Slogans zu echten Handlungen zu kommen, ist eine andere Sache.
Zweitens muss sie auch in der Regierung ein Gleichgewicht herstellen, denn die „Fratelli d’Italia“ sind deutlich die stärkste Partei innerhalb der Koalition, manchem vielleicht sogar zu stark. Sie muss jetzt aufpassen, dass ihre Bündnispartner, vor allem die Lega von Matteo Salvini, sich nicht frustriert und an den Rand gedrängt fühlen. Das könnte ein schwieriger Balanceakt werden.
Noch genießt Meloni ihren Sieg. Aber vor ihr liegen schwierige Aufgaben. Die jüngsten Spekulationen über die Zusammenstellung der Regierung zeigen schon, dass sie nicht unbedingt nur Parteimitglieder benennen möchte, sondern möglicherweise auch externe Fachleute aus der Wirtschaft oder von der Europäischen Zentralbank – auch um zu zeigen: Ich bin nicht nur Postfaschistin, ich bin eine konservative Politikerin und vielleicht sogar die neue konservative Politikerin Italiens. Für all das braucht sie Zeit.
„Lage Ungarns und Polens vermeiden“
tagesschau.de: Und damit sind wir beim Blick auf die EU – welchen Kurs erwarten Sie von Meloni in europäischen Fragen?
De Petris: Wenn Meloni klug ist, wird sie vermeiden, als Vertreterin einer Regierung aufzutreten, die eine Konfrontation mit der EU sucht. Da gibt es natürlich auch einige, die meinen, dass die EU eher ein Problem ist als eine Chance oder Lösung. Aber Meloni sieht ganz genau, was momentan mit Polen und Ungarn auf EU-Ebene passiert.
Ich glaube, sie wird vermeiden, in eine solche Lage zu kommen. Dass die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen oder die spanischen Neofaschisten sich so sehr über Melonis Sieg freuen, ist für ihre Profilierung auf europäischer Ebene keine gute Nachricht.
tagesschau.de: Was macht Sie da so zuversichtlich? Hat das auch was damit zu tun, dass Italien so hoch verschuldet ist?
De Petris: Meloni weiß ganz genau: Wirtschaftlich ist Italien sehr abhängig von europäischen Finanzmitteln. Diese werden nur weiter fließen, wenn bestimmte Reformen fortgeführt werden, die die Regierung Draghi angefangen hat. Deswegen erwarte ich persönlich keinen so großen Unterschied in Bezug auf die EU. Andernfalls muss sie sich und Italien darauf vorbereiten, dass die Europäische Union genauso reagieren wird wie bei Ungarn und Polen. Aber das ist vielen hier klar.
tagesschau.de: Rechtspopulistische Parteien haben in Europa in den vergangenen Jahren versucht, den Rechtsstaat auszuhöhlen und die Medien auf Linie zu bringen. Befürchten Sie Ähnliches von Meloni?
De Petris: Eine Justizreform steht ohnehin an und wurde von der EU schon von der Regierung Draghi erwartet. Dieser Prozess hat bereits begonnen. Es ist aber kein Geheimnis, dass die Parteien des Rechtsbündnisses in den vergangenen Jahren Konflikte mit der Justiz hatten.
Wir können schon erwarten, dass es hier gewisse Änderungen geben wird. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Justiz in eine so starke Abhängigkeit von der Regierung gebracht wird wie in Ungarn oder Polen. Das wird auch auf den Widerstand Brüssels treffen. In dieser Hinsicht wird sich nicht so viel ändern.
tagesschau.de: Ich nehme Ihre Reaktion insgesamt als gelassen wahr.
De Petris: Italien hat schon lange ein Problem mit dem Postfaschismus, Vergangenheitsbewältigung war in Italien nie richtig ein Thema, und das sehen wir heute. Aber das ist kein neues Problem. Deswegen können wir uns auch nicht aufregen, nur weil jemand wie Giorgia Meloni die Wahl gewonnen hat.
Wir müssen uns mit dem Thema Faschismus beschäftigen. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass die 26 Prozent der Wähler, die für Meloni gestimmt haben, alle Postfaschisten sind. Viele haben aus Unzufriedenheit nach einer Alternative gesucht, und Meloni war die klarste.