Experte geht von „Sprengungen“ aus – CIA warnte Bundesregierung im Sommer vor Anschlag auf Ostsee-Pipelines
27. September 2022Lecks an Nord-Stream-Pipelines Starke Hinweise auf Sabotage
Sind die Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 durch Sabotage entstanden? Nicht nur Polen und die Ukraine sind davon überzeugt. Seismologen registrierten an den betreffenden Stellen Erschütterungen, die auf Explosionen hindeuten könnten.
Nach dem Auftreten von insgesamt drei Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 sind Berichte über schwere Erschütterungen in den betroffenen Regionen bekannt geworden, die die Debatte über Sabotageakte verschärfen. Ein Seismograph auf der dänischen Insel Bornholm habe zweimal ein Beben registriert – in der Nacht zum Montag um 02.04 Uhr früh südöstlich von Bornholm, die zweite um 19.04 Uhr am Montagabend, teilte das deutsche Forschungszentrum GFZ. Es gebe keine Hinweise auf Erdbeben.
Lecks an Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 könnte ein möglicher Sabotageakt sein
Das schwedische Nationale Seismische Netzwerk habe zwei Ereignisse mit „massiven Energiefreisetzungen“ in der Nähe der dänischen Insel Bornholm aufgezeichnet, sagte Peter Schmidt, Seismologe an der Universität Uppsala, der Nachrichtenagentur AFP. Die Ursache „kann nur eine Explosion sein“. Ähnlich äußerte sich Bjorn Lund vom Schwedischen Seismologischen Zentrum der Universität Uppsala. Er sagte dem Sender SVT: „Es gibt keinen Zweifel, dass das Explosionen waren.“
Nach den Ausschlägen auf den Messgeräten habe es ein Rauschen gegeben, sagte ein GFZ-Sprecher. Er könne nicht sagen, ob das ausströmendes Gas sein könnte. Der Druckabfall bei Nord Stream 2 war erstmals am Montagnachmittag gemeldet worden, der bei Nord Stream 1 am frühen Abend – kurz nach der zweiten der beiden registrierten Erschütterungen.
Aus den beiden Pipelines von Russland nach Deutschland tritt derzeit an drei Stellen in der Nähe von Bornholm Gas aus. Die dänische Marine veröffentlichte auf Twitter ein Video, worin Luftblasen auf einer Fläche von mehr als einem Kilometer Radius an der Meeresoberfläche zu sehen sind.
Schweden und Dänemark richten Krisenstäbe ein
Wegen der Gefahr für die Schifffahrt richteten dänische Behörden Sperrzonen ein. Nach Angaben der dänischen Energiebehörde können Schiffe den Auftrieb verlieren, wenn sie in das Gebiet hineinfahren. Zudem bestehe möglicherweise eine Entzündungsgefahr. Außerhalb der Zone gebe es keine Gefahr, auch nicht für die Einwohner von Bornholm und der kleinen Nachbarinsel Christiansø.
In den betroffenen Ländern wird unterdessen an Lösungen gearbeitet. Sowohl in Schweden als auch in Dänemark wurden Krisenstäbe einberufen. Als man von den Lecks erfahren habe, sei das Krisenmanagement zusammengerufen worden, an dem mehrere Ministerien und Behörden beteiligt seien, sagte die schwedische Außenministerin Ann Linde der Zeitung „Aftonbladet“. Der dänische Außenminister Jeppe Kofod habe sie kontaktiert, virtuelle Treffen seien am Abend geplant.
Bundesinnenministerium: Nehmen Beschädigungen „sehr ernst“
Auch das Bundesinnenministerium ließ über einen Sprecher mitteilen, man nehme die Beschädigungen an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 „sehr ernst“. „Wir sind hierzu innerhalb der Bundesregierung, mit den deutschen Sicherheitsbehörden und mit unseren dänischen und schwedischen Partnern im engen Kontakt.“ Der Betreiber der Nord-Stream-1-Trasse erklärte, man veranlasse derzeit Untersuchungen.
Der Schaden an den Gasleitungen ist derweil wohl größer als gedacht. Der „Spiegel“ berichtet, die Leitungen seien über eine größere Länge aufgerissen. Anders sei der „explosionsartige Druckabfall“ in den Pipelines nicht zu erklären, zitiert das Blatt Regierungskreise. Es könne sich demnach um einen Anschlag handeln, der Verunsicherung auf den europäischen Gasmärkten provozieren solle. Zwar wird aktuell durch keine der Pipelines Gas geliefert, der Gaspreis stieg angesichts der Verunsicherung aber. Laut „Spiegel“ werden derzeit die Sicherheitskonzepte anderer Pipelines und Gasversorgungsanlagen mit Hochdruck überprüft.
Karte mit der Nordstream Pipeline, Russland, Deutschland, Dänemark, Schweden und Bornholm
Fieberhafte Ermittlungen
Zu einer möglichen Ursache der Lecks lagen von offizieller Seite bislang allerdings keine belastbaren Angaben vor. Es verdichten sich jedoch Anzeichen, die einen Sabotageakt vermuten lassen. In Polen, Russland und Dänemark wird ein gezielter Anschlag auf die europäische Gasinfrastruktur als Ursache für die als beispiellos geltenden Schäden an beiden Pipelines für denkbar gehalten.
„Ein Zufall ist kaum vorstellbar“, sagte Dänemarks Regierungschefin Mette Frederiksen. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sprach von einem „Sabotageakt“. Noch seien nicht alle Details bekannt, aber es handle sich „wahrscheinlich um die nächste Eskalationsstufe der Situation in der Ukraine“. Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak schrieb auf Twitter: „Das großflächige ‚Gasleck‘ an Nord Stream 1 ist nichts anderes als ein von Russland geplanter Terroranschlag und ein Akt der Aggression gegenüber der EU.“
Auch aus Sicht deutscher Sicherheitskreise spricht vieles für Sabotage. Sollte es sich um einen Anschlag handeln, würde angesichts des Aufwands nur ein staatlicher Akteur infrage kommen, hieß es.
In Moskau will die Regierung einem Sprecher zufolge keine Variante ausschließen. Auch der Betreiber von Nord Stream 2 ist skeptisch: Dem Sprecher Ulrich Lissek zufolge sind die Leitungen so verlegt, dass eine gleichzeitige Beschädigung mehrerer Leitungen etwa durch einen einzelnen Schiffsunfall höchst unwahrscheinlich ist.
Militärexperte vermutet russischen Sabotageakt
Der norwegische Militärwissenschaftler und Marineoffizier Tor Ivar Strömmen hält einen russischen Sabotageakt für die wahrscheinlichste Erklärung für die Lecks. „Ein Leck an drei verschiedenen Orten mit so großer Entfernung dazwischen kann nur die Folge eines vorsätzlichen Akts oder von Sabotage sein“, sagte Strömmen der Nachrichtenagentur AFP.
Zugleich komme einzig Russland für ihn als Verantwortlicher infrage. „Lecks an Gaspipelines sind extrem selten“, sagte Strömmen weiter. Die Nord-Stream-Leitungen seien zudem recht neu, im Fall von Nord Stream 2 sogar sehr neu. Da bleibe eigentlich nur Sabotage als Erklärung. „Ich sehe nur einen möglichen Akteur und das ist Russland“, führte der Offizier aus.
Moskau wolle die Verantwortung für die Einstellung seiner Gaslieferungen nicht übernehmen. Dasselbe Muster sei schon zu beobachten gewesen, als von russischer Seite der Betrieb von Nord Stream 1 unter Verweis auf nötige Wartungsarbeiten eingestellt wurde. „In Wirklichkeit geht es bei all dem um die Nutzung von Energie als Waffe“, sagte Strömmen weiter. Russland versuche, die europäischen Länder zu verunsichern. „Ziel ist es, Europa zu spalten und es dazu zu bringen, Druck auf die Ukraine auszuüben, um einen Waffenstillstand oder einen Frieden zu den von den Russen gewünschten Bedingungen zu erreichen.“