Triage im Corona-Hotspot? Als Landrat über seine Kliniken spricht, kommen ihm die Tränen
16. Dezember 2020
Bislang kannten wir das nur aus dem Ausland, jetzt ist es offenbar auch hierzulande so weit: Gestern hat erstmals in Deutschland ein Arzt öffentlich bestätigt, dass in seiner Klinik die so genannte Triage praktiziert wird. Der ärztliche Direktor des Oberlausitzer Berglands Klinikums im sächsischen Zittau, Mathias Mengel, räumte in einem Online-Bürgerforum ein, dass Ärzte in seiner Klinik vor der Entscheidung stehen, welchen Corona-Patienten sie helfen und welchen nicht.
Zittau: Weil die Kapazitäten nicht ausreichen, müssen Ärzte Corona-Patienten „aussortieren“
„Wir waren in den vergangenen Tagen schon mehrere Male in der Situation, dass wir entscheiden mussten, wer Sauerstoff bekommt und wer nicht“, sagte der Mediziner dem Nachrichtenportal t-online.
Ein kleines Team aus Ärzten entscheide kurzfristig, so Mengel. Zwar werde versucht, Patienten, für die keine Versorgung mehr bereitstehe, in andere Kliniken zu verlegen. „Aber wir sind im Epizentrum, manche Häuser nehmen gar nicht mehr auf.“ Zudem könne diese Entscheidung auch bedeuten, dass es für einen nicht verlegungsfähigen Patienten dann keine entsprechende Hilfe mehr gebe. Auch das, so Mengel weiter, sei in der Zittauer Klinik bereits der Fall gewesen.
Ähnlich bestürzt über die dramatische Situation zeigte sich auch Zittaus Oberbürgermeister Thomas Zenker. „Es ist klar erkennbar, dass wir in dieser Lage aus eigener Kraft nicht weiterkommen“, erklärt er schriftlich gegenüber FOCUS Online. Wie brisant die Lage in der ostsächsischen Stadt derzeit ist, lässt sich auch an der Sterberate ablesen. Die liegt „rund 25 Prozent höher als der langjährige Durchschnitt“, heißt es aus dem Zittauer Rathaus.
Die Nachricht von den Triage-Fällen in Zittau hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Die Klinikleitung dementiert indes eine Andwendung der Triage. In einer Presserklärung heißt es: „Richtig ist, dass der Aufwuchs an Patienten mit Covid-19 sowohl zu hohen Auslastungen auf den extra eingerichteten Infektionsstationen, als auch in den Intensivstationen führt. Wir haben an den beiden Standorten des Klinikums Oberlausitzer Bergland insgesamt maximal 100 Betten für die Versorgung der Covid-Patienten in den Infektionsstationen eingerichtet, davon sind in Spitzenzeiten schon um die 85 belegt worden.“
Inzidenz über 700, Triage in den Kliniken: „Es ist noch nicht wie Bergamo – aber es kann so weit kommen“
Aufgrund zunehmender Personalausfälle sei die Kapazitätsgrenze hier jedoch inzwischen deutlich unter 100 gesunken. „Wir haben zwar die Räumlichkeiten und Betten, aber nicht ausreichend verfügbares Personal zur Hand“, so die Klinikleitung. Sie will die Berichte zu den Triage-Fällen in ihren Häusern weiter prüfen. Mathias Mengel selbst war am Mittwoch nicht zu erreichen.
Geschockt über die Zustände in den Kliniken seines Landkreises hat sich am Donnerstagnachmittag der Görlitzer Landrat Bernd Lange (CDU) gezeigt. In der via Livestream übertragenen Sitzung des Kreistags sagte Lange sichtlich bewegt: „Ich bin sehr traurig darüber, dass wir der erste Landkreis sind, in der diese Handlung offiziell passiert ist – auch wenn sie schon in ganz Deutschland angewendet wird. Ich hoffe, dass unsere Ärzte nicht zu Entscheidungen wie in Bergamo im Frühjahr kommen müssen. Soweit ist es noch nicht. Aber wenn wir uns nicht an die Regeln halten, werden wir so eine Situation nicht ausschließen können. Punkt!“
Hotspot-Landrat mit Tränen in den Augen über Querdenker: „Wie ist diese Scheiße in den Gehirnen nur entstanden?“
Der Landrat des Hotspot-Kreises Görlitz, wo nach Landkreisangaben die 7-Tage-Inzidenz heute auf über 700 geklettert ist, äußerte sich im Zusammenhang mit den Triage-Fällen auch zu Corona-Kritikerin und Querdenkern. Mit stockender Stimme und Tränen in den Augen sagte Lange: „Ich bin sehr traurig. Vor allem, weil Leugner mir viele Briefe schreiben. Sie vergleichen die Lage mit 1989, als auch ich auf die Straße gegangen bin und um Freiheit gekämpft habe. Da treibt es mir die Tränen in die Augen. Da denke ich mir: Wie ist diese Scheiße in den Gehirnen nur entstanden?“
Lange geht davon aus, dass sich die Situation in den Kliniken seines Landkreises in absehbarer Zeit nicht bessern wird. Allein am heutigen Mittwoch seien 467 Neuinfektionen registriert worden. „Was wir heute an Neuinfektionen haben, haben wir an Weihnachten in den Krankenhäusern liegen. Wir müssen um sie fürchten – gerade in der Weihnachtszeit“, so der Landrat.
Hubschrauber sollen Corona-Patienten ausfliegen – doch der Transport ist gefährlich
Doch warum bekommt der Hotspot-Kreis keine Unterstützung von außen? Immerhin sind deutschlandweit trotz der angespannten Lage noch Tausende Intensivbetten frei.
Von Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) heißt es dazu auf Anfrage von FOCUS Online: „Wir bemühen uns tagtäglich um die Verlegung der Patienten wie auch die Erweiterung der Kapazitäten […] Selbstverständlich sind wir auch mit anderen Regionen in Kontakt, um gegebenenfalls Patienten dorthin verlegen zu können. Es gibt entsprechende Angebote und insofern würden wir es gerne nutzen, wenn es notwendig ist. Wir wissen angesichts der Infektionszahlen, wie die Perspektive ist. Wir haben auch Hilfe bei der Bundeswehr angefordert und sind auch mit unseren niedergelassenen Ärzten im Gespräch, um jede Möglichkeit der Unterstützung zu nutzen.“
Schon jetzt werden aus Zittau regelmäßig Corona-Patienten per Hubschrauber nach Leipzig und Dresden geflogen. Das Problem: Nicht alle sind transportfähig „Wir müssen alle wissen, dass wir Intensivpatienten nur schwer verlegen können. Die Lebenserwartung eines Patienten verschlechtert sich dadurch um ein Vielfaches“, sagte Landrat Lange heute im Kreistag. Trotzdem werde für die Weihnachtsfeiertage überlegt, geeignete Corona-Patienten im „großen Stil nach Schleswig-Holstein zu verlegen“.