Klingeln bei Egon Krenz: Ein Schüler will es wissen
9. November 2022Welche Rolle spielte Egon Krenz, 1989 DDR-Staatsratsvorsitzender, beim Mauerfall heute vor 33 Jahren? Das wollte Christoph Cyrulies wissen. Er ist 19 Jahre alt und hat für einen Schulvortrag einfach beim einst mächtigsten Mann der DDR geklingelt.
Egon Krenz hat sich auf ein Gespräch mit dem Schüler eingelassen – und Christoph Cyrulies, der in diesem Sommer Abitur in Leipzig gemacht hat, hat sich mit der Geschichte seiner ungewöhnlichen Begegnung an den NDR gewandt. Entstanden ist daraus eine Sonderfolge des Podcasts „Dorf Stadt Kreis – starke Geschichten aus dem Norden“ des NDR in Mecklenburg-Vorpommern.
Eine Fahrradfahrt in die Vergangenheit
Als Christoph Cyrulies im Sommer 2021 mit seinem Rad nach Dierhagen im Landkreis Vorpommern-Rügen unterwegs ist, kreisen seine Gedanken um die bevorstehende Begegnung mit dem Zeitzeugen aus dem innersten machtpolitischen Zirkel der SED. Wird Egon Krenz ihm die Tür öffnen? Wie wird er reagieren? Wird er überhaupt mit ihm sprechen? Immerhin stand Egon Krenz einst an der Spitze des zerfallenden Arbeiter-und-Bauern-Staates. Für die Schule muss Christoph Cyrulies einen Geschichtsvortrag über den „Herbst 1989“ vorbereiten – und er hat Fragen über Fragen an den einst mächtigsten Mann der DDR.
„Da rutscht einem das Herz schon in die Hose“
Christophs Großmutter lebt in Graal-Müritz – hier weiß jeder, wo Krenz wohnt. Christoph radelt also kurz entschlossen zu seinem Haus. „Das ist natürlich ein besonderes Gefühl. Man weiß, der Mann, der da in der Tür steht mit seinen 85 Jahren, der war mal Staatsrat der DDR. Da rutscht einem das Herz schon in die Hose“, erinnert er sich an den Moment der ersten Begegnung.
Interviews gebe er partout nicht mehr, lässt Egon Krenz zunächst mit freundlicher Bestimmtheit am Gartenzaun verlauten, doch im Falle des jungen Leipzigers wolle er eine Ausnahme machen. Der Schüler und der Staatsratsvorsitzende von 1989 verabreden sich zum Interview. Die anfängliche Distanz des Ex-SED-Politikers gegenüber Menschen mit Interview-Anfragen entwickelt sich zu einem intensiven und kontroversen Gespräch. Ganz „im Dienste der Wahrheit“ versucht Egon Krenz dabei, das angeblich „verzerrte mediale Bild“ der DDR vor allem gegenüber der jüngeren Generation geradezurücken.
Fragezeichen im Geschichtsbuch
„Wenn der 9. November 1989, der Tag der Maueröffnung, nach über 30 Jahren im Klassenzimmer thematisiert wird, dann glauben wir, dass inzwischen alles bekannt ist, was kommende Generationen über diese bedeutende historische Wendung in unserem Land wissen sollten“, sagt Christoph Cyrulies. „Doch nicht zuletzt auch durch das Gespräch mit Egon Krenz ist mir deutlich geworden, dass es bis heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach diesen denkwürdigen Ereignissen, immer noch offene Fragen gibt, deren Beantwortung für unser Geschichtsverständnis sehr wichtig sind.“
Schabowski versus Krenz: Zwei Männer, zwei Aussagen
Christoph Cyrulies will es jetzt genau wissen. Denn es gebe bis heute widersprüchliche Angaben dazu, wie es zu der berühmt-berüchtigten Polit-Panne von Günter Schabowski in der Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 kommen konnte, in der er den Menschen in der DDR eine sofortige Reisefreiheit ohne jegliche bürokratische Hürden versprach. Der mit einer Sperrfrist versehene Beschluss einer neuen Reiseregelung sollte laut Krenz eigentlich noch bis zum frühen Morgen des 10. November geheim gehalten werden.
Eine verhaspelte Aussage Schabowskis gegenüber der Weltpresse bewirkte letztendlich den Ansturm auf die innerdeutschen Grenzübergänge, brachte tausende Grenzsoldaten an diesem Abend enorm unter Druck, da sie bis dato keine Anweisungen für eine Grenzöffnung erteilt bekommen hatten. Schabowski betonte seinerzeit, zum Versprecher sei es gekommen, weil er zum Zeitpunkt der Abstimmung über die neue Reiseregelung nicht an der internen Sitzung des Zentralkomitees (ZK) der DDR teilgenommen habe. Krenz dementiert das und fügt hinzu: „Ich hätte zu 99 Prozent gesehen, wenn sein Platz leer gewesen wäre!“ Zwei Männer, zwei Aussagen.
„Sie hatten meinen Befehl, dass an der Grenze nicht geschossen werden darf“
An diesem Abend des 9. November 1989 bekommt Egon Krenz die Meldung, dass die Menschen an die Grenzübergangsstellen strömen. Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit habe wissen wollen, wie es weiter gehen soll. Der Minister für Nationale Verteidigung – noch auf dem Weg von der ZK-Sitzung nach Strausberg – sei nicht zu erreichen gewesen. „Da sehen Sie jetzt mal den ganzen Unterschied zu heute, es gab ja damals auch im Westen noch keine Handys. Es hätte ein Atomkrieg ausbrechen können und ich hätte meinen Verteidigungsminister nicht erreichen können!“, erklärt Krenz dem Schüler.
In einer weiteren Besprechung mit Erich Mielke habe der ihm signalisiert, die Entscheidung liege bei Krenz, dem SED-Generalsekretär. Die eigentlichen Helden seien in jener Nacht die Grenzer gewesen, meint Egon Krenz. 40 Jahre lang hätten sie gelernt, die Grenze zu schützen. Seine so schnell nicht durchgestellte Entscheidung, die Übergänge vorzeitig zu öffnen, „musste sich ja auch erst einmal im Kopf abspiegeln. Aber, was die natürlich hatten: Sie hatten meinen Befehl vom 3. November 1989, dass an der Grenze, auch bei Grenzverletzungen, nicht geschossen werden darf.“
Die friedliche Revolution – eine friedliche?
Christoph Cyrulies hat sich akribisch auf das Gespräch vorbereitet. „Ist denn die Revolution durch Krenz friedlich geblieben?“, fragt er. Egon Krenz lacht: „Nein, natürlich nicht. Was aber natürlich ist. In jeder Macht ist es so: Es gibt eine Befehlskette. Und sagen wir mal: Wenn mir die Nerven durchgegangen wären … Ich werde ja oft gefragt, warum ich nicht angeordnet habe, polizeiliche oder militärische Gewalt anzuwenden. Dann antworte ich meistens: ‚Weil ich in der DDR zur Schule gegangen bin.‘ Das mag Ihnen jetzt ein bisschen eigenartig vorkommen, aber: Waffen gegen das eigene Volk, das wurde in der DDR-Schule nicht gelehrt.“
Es ist ein schwieriger Moment in dem Gespräch. Christoph Cyrulies pariert: „Nun, das kommt mir schon eigenartig vor, weil die DDR in der Tat Waffen gegen ihr eigenes Volk eingesetzt hat.“ Krenz fragt: „Wo denn?“ Die fragende Antwort des Schülers: „An der Mauer?“ „Sehen sie“, entgegnet Krenz, „das wird doch so vereinfacht dargestellt. Bewaffnete Kräfte, Sicherheitskräfte werden in allen Ländern eingesetzt, wenn es darum geht, den Staat zu schützen.“
Die Macht der Massen setzt sich durch
Dass sich die DDR-Führung Anfang November 1989 zur Öffnung der Grenzen gezwungen sah, war vor allem auf die Macht der Massen auf den Straßen und Plätzen in Städten und Dörfern zurückzuführen. Der friedliche Ablauf war dabei keinesfalls selbstverständlich: Am 9. Oktober 1989 wurden die Streitkräfte der Nationalen Volksarmee (NVA) in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ versetzt. Doch zwischen einem repressiven Staat – den drohenden Zerfall vor Augen – und seinen aufgebrachten Bürgern zu vermitteln, brauchte es vor allem diplomatisches Geschick.
Walter Friedrichs: Der Siebte der „Leipziger Sechs“?
Berühmt geworden sind die Vermittlungen der sogenannten Leipziger Sechs, zu denen unter anderem Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur und der Kabarettist Bernd-Lutz Lange zählten. In mehreren Aufrufen warnten sie im Oktober 1989 vor Gewalt und traten für einen friedlichen Verlauf der Demonstrationen ein. Doch weniger geläufig ist eine Person, der die Vermittlerrolle ebenso zugeschrieben werden müsste: dem ehemaligen Chef des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, Walter Friedrich.
In den frühen Morgenstunden des 9. Oktober ist Walter Friedrich zu Egon Krenz nach Ost-Berlin gefahren, um ihn über die angespannte Situation in Leipzig zu unterrichten und sich gleichzeitig voller Nachdruck für eine friedliche Lösung im Umgang mit den Demonstranten einzusetzen. Die Frage nach Friedrichs Rolle ist Christoph Cyrulies besonders wichtig, denn eine seiner Großmütter hatte im Zentralinstitut gearbeitet und ihm immer davon erzählt. Krenz erinnert sich an die Gespräche mit seinem Freund Friedrich und daran, dass dieser ihm sehr deutlich gemacht habe, wie die Jugendlichen damals tatsächlich zur DDR standen. Warum Walter Friedrichs Intervention heute weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, kann Krenz sich nicht erklären.
Zuhören – und Unrecht benennen
Im Laufe des Gesprächs denkt sich Christoph Cyrulies ein in die Position des Repräsentanten des DDR-Machtapparates. Er ist davon überzeugt, dass verschiedene Meinungen gehört und ausgehalten werden müssen. Mit dieser Haltung diskutiert er mit Krenz – nicht aber mit der Erwartung, er könne ihn von seiner eigenen Meinung überzeugen.
Die Mauer: „Das hässlichste, aber notwendigste Bauwerk“
Auch gut drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall wird das Gespräch heikel, als Christoph Cyrulies Fragen zum DDR-Unrecht stellt. „Da hatte ich schon Sorge, dass das Gespräch schneller zu Ende geht als mir lieb ist“, sagt er. Wie er sich heute, nach über 30 Jahren, zum Grenzregime der DDR positioniert, will Christoph Cyrulies von Egon Krenz wissen. Die Antwort: „Ich sage: Jeder Tote an der Grenze war einer zu viel, aber ich weiß bis heute nicht, wie wir ihn hätten verhindern sollen.“ Die Mauer bezeichnet Krenz als „eines der hässlichsten Bauwerke, das wir überhaupt in Deutschland hatten, aber jetzt zitieren Sie nicht nur diesen einen Satz, sondern sagen gleichzeitig dazu: Es ist das hässlichste, aber das notwendigste Bauwerk gewesen, weil wir damit den Frieden versucht haben zu retten.“
„Was soll ich bereuen?“
Zu seiner eigenen Verurteilung wegen Totschlags in den Mauerschützenprozessen der 1990er-Jahre sagt Krenz: „Die Bundesrepublik hatte gar kein Recht, mich zu verurteilen. Ich habe nach DDR-Recht keine Straftaten begangen.“ Er ging damals in Revision, unterlag aber 1999 vor dem BGH. Günter Schabowski hingegen nahm den Schuldspruch seinerzeit an. „So ein schwacher Charakter bin ich nicht“, so Egon Krenz zu dem Schüler. Auf die Frage, ob er nichts bereue, erwidert Krenz ungläubig: „Was soll ich bereuen?“
„Wir konnten uns mit einem Handschlag verabschieden“
Am Ende produziert Christoph Cyrulies für seinen Schulvortrag eine eigene 45-minütige Quasi-Radio-Sendung – mit historischen Aufnahmen und mit seinen persönlichen Gedanken zur Haltung des einstigen SED-Funktionärs. Egon Krenz willigt später ein, dass dieser Beitrag vom NDR veröffentlicht werden darf, allerdings ungekürzt. „Ich finde, wir haben das Ganze am Ende gut über die Bühne gebracht“, sagt Christoph Cyrulies rückblickend, „und konnten uns auch mit einem Handschlag verabschieden.“ Sein Berufswunsch: Journalist.