Russischer Rückzug aus Cherson Selbst die Staatsmedien ringen um Worte
11. November 2022Der Rückzug der russischen Armee aus Cherson muss auch im Inland erklärt werden. Ist es ein taktisches Manöver? Oder eine militärische Niederlage? In den staatlich kontrollierten Medien gehen die Meinungen ungewöhnlich auseinander.
Dass sich die russischen Truppen nicht freiwillig aus der Stadt Cherson zurückziehen, steht auch für die meisten russischen Experten außer Frage. Der Nachschub habe nicht mehr gewährleistet werden können, gab selbst der Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, zu.
Der Druck der ukrainischen Offensive ist groß. Aber lässt sich daraus ableiten, dass Russland in Cherson vor einer vernichtenden Niederlage steht? Da scheiden sich die Geister. Für die einen ist es ein Offenbarungseid. Für andere ein vernünftiges taktisches Manöver. Manch einer wittert eine von langer Hand vorbereitete Falle.
Abzug in homöopathischen Dosen
Es ist so vieles offen, dass selbst die Staatsmedien um Worte ringen. Schon vor Wochen hatte das russische Staatsfernsehen damit begonnen, medial den Boden für den Rückzug aus der Stadt Cherson zu bereiten – der ersten und einzigen Gebietshauptstadt, die Russland in den Kriegsmonaten unter seine Kontrolle gebracht hat.
Erst wurde ausführlich gezeigt, wie Stadtbewohner mit Taschen und Koffern vom einen ans andere Dnipro-Ufer gebracht wurden. Dann folgte die Verlegung der von Russland installierten Verwaltung. Und nun also die Armee.
Es ist ein Abzug, verpackt in homöopathische Dosen. Ein Versuch, meinen politische Beobachter wie Tatjana Stanowaja, die Gesellschaft auf den Rückzug vorzubereiten. Den Schock abzumildern über das, was für regierungskritische Politologen wie Walerij Solowej mehr ist als nur eine verlorene Schlacht.
„Das Ganze ist eine schändliche Niederlage“, sagt er und bekräftigt: „Nichts anderes als eine schändliche Niederlage.“
Die Schwierigkeit, die richtige Formulierung zu finden
Solche Worte waren im staatlichen Fernsehen so nicht zu hören. Aber auch gestandene Sprecher und Kommentatoren taten sich sichtlich schwer, die richtige Formulierung für die Entscheidung zu finden.
Die einen sprachen von Umgruppierung, die anderen von Abzug. Von einem zeitlich begrenzten Rückzug war die Rede. Von einem taktischen Manöver.
Einig war man sich nur, dass es eine schwere Entscheidung war. Und eine Entscheidung, die eigentlich schon früher hätte getroffen werden müssen, meint Kirill Michajlow vom Conflict Intelligence Team im Interview mit dem kremlkritischen Internetportal „Mediazona“. Nämlich, als sich nach Angriffen auf Brücken über den Fluss Dnipro erste Versorgungsengpässe gezeigt hätten: „Das haben die Generäle bereits Ende des Sommers gesehen. Man sagt, dass sie Putin gebeten hätten, die Truppen aus Cherson abzuziehen, noch bevor die Annexion vollzogen wurde“ – also bevor die russischen Soldaten weiter unter Druck gerieten.
Einer Einkesselung entgangen?
Inzwischen hat sich die Lage weiter zugespitzt. Aus Sicht des Kommandeurs der russischen Truppen in der Ukraine, General Surowikin, bestand die Gefahr, dass die Einheiten eingekesselt werden könnten.
Für den Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, einem der wohl glühendsten Kriegsbefürworter, war die Entscheidung deshalb die „richtige Wahl“. Surowikin vermeide sinnlose Opfer und bringe die Truppen am linken Ufer in eine strategisch bessere Position. Von einem „Aufgeben“ der Stadt könne also keine Rede sein.
Kritik von Kriegsbefürwortern
In dieser Frage aber sind sich die Kriegsbefürworter keineswegs einig. Konstatin Siwkow hält im Interview des Internetsenders „Tsargrad“ die operativen Gründe für die Entscheidung, die Truppen aus Cherson abzuziehen, für vorgeschoben. Schließlich gebe es nach wie vor einen sicheren Nachschubweg.
Wenn es um die Rettung von Soldaten gehe, sagt er, gebe der Abzug der russischen Truppen „den Einheiten des Gegners freie Hand“. Denn: „Sie können nun an anderen Orten stationiert werden. Das bedeutet, dass die Opferzahlen unter unseren Soldaten, die um Beispiel in Richtung Donezk agieren, steigen werden.“ Siwkows Fazit: „Das ist eine rein politische Entscheidung.“
Daran wiederum zweifelt nicht nur der ukrainische Präsident. Der Feind, erklärte Wolodymyr Selenskyj, mache keine Geschenke. Die Sorge, dass es sich um eine Falle handeln oder Cherson wie Mariupol weitgehend zerstört werden könnte, ist und bleibt groß.