Analyse: AKW-Laufzeitverlängerung Atomkraft? Noch ein bisschen
11. November 2022Der Bundestag hat die Laufzeitverlängerung der letzten drei AKW beschlossen. In der Grünen-Fraktion bereitet das einigen Bauchschmerzen – allen voran Ex-Umweltminister Trittin.
Es lohnt sich, heute Jürgen Trittin zu beobachten. Wie er schweigt und doch viel sagt. Der Vater des Atomausstiegs kommt als einer der ersten, zehn Minuten bevor die Debatte beginnt. Er weiß, dass die Kameras jetzt auf ihn blicken. Und dass sich viele fragen: Wie wird er abstimmen, der frühere Bundesumweltminister, der einst den Atomausstieg durchsetzte?
Die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann kommt an seinen Platz, die beiden reden eine Weile. In der Sache sind sie sich grundsätzlich einig. Trotzdem werden sie heute unterschiedlich abstimmen – und es ist davon auszugehen, dass beide das wissen.
Schmerzen für die Grünen
Die Debatte ist emotional und persönlich. Zuerst spricht Harald Ebner, der Vorsitzende des Umweltausschusses. Der Grüne erzählt von seiner Tochter, die kurz vor der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl geboren wurde. Nie hätte er sich träumen lassen, diese Rede zu halten. Es sei eine Zumutung. „Aber wir muten uns das zu, weil der Atomausstieg damit bestehen bleibt“, ergänzt Ebner. Zentral sei, dass keine neuen Brennstäbe beschafft würden. Beifall aus der Grünen-Fraktion. Trittin klatscht nicht.
Auf ihrem Parteitag im Oktober hatten die Grünen etwas anderes beschlossen – auch schon unter Schmerzen. Atomkraft nur als Reserve. Und nur für zwei der drei Kraftwerke. Der Koalitionspartner FDP wollte eine Laufzeitverlängerung bis 2024. Beim Streit ließen sich Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner öffentlich zuschauen. Am Ende entschied der Kanzler per Machtwort. Danach schien es fast so, als wären die streitenden Minister erleichtert, denn jetzt war es entschieden.
FDP und SPD stimmen geschlossen für das Gesetz
Bundeskanzler Olaf Scholz fehlt heute bei der Debatte, ebenso wie Lindner. Habeck kommt erst später, da läuft Diskussion schon. Demonstrativ arbeitet er Akten durch. Als wolle er gar nicht zuhören, als wolle er alles an sich abperlen lassen. Auch er weiß, dass die Kameras auf ihn blicken. Kanzler und Finanzminister kommen erst zur Abstimmung.
Zähes Ringen um eine Verlängerung der Laufzeit von drei Kernkraftwerken
Die CDU-Politikerin Julia Klöckner spricht die Grünen im Parlament direkt an. Sie verstehe, dass die Partei Probleme habe, diesen Gesetzentwurf einzubringen. „Aber was ich nicht verstehen kann, ist, dass Sie Ihre Schmerzen und Windungen abarbeiten an einer Opposition, die mit Fakten argumentiert und nicht mit Ideologie.“ Sie wird unterbrochen von Lachen aus der Grünen-Fraktion – ganz besonders laut lacht jetzt Trittin und schlägt mit der Hand auf den Tisch.
Es gehe den Grünen – so sagt Klöckner weiter – nicht um die Sache oder die Menschen. Sondern darum, dass sich Trittin sein Lebenswerk nicht versauen lassen wolle. Da ist er wieder, der alte ideologische Streit um die Atomkraft. Die FDP würde wie die Union die Atomkraftwerke gern noch länger laufen lassen. Die Liberalen lassen durchblicken, dass auch sie den Gesetzentwurf nicht für die Ideallösung hält. Sie stimmt am Ende aber wie auch die SPD geschlossen für das Gesetz.
Neun Gegenstimmen von den Grünen
Die Mehrheit der Ampel ist nicht in Gefahr. Aber von den Grünen gibt es insgesamt eine Enthaltung und neun Gegenstimmen. Eine kommt von Trittin. Er spricht nicht in der Debatte. Er verschickt um 11:29 Uhr eine Erklärung – noch bevor das Abstimmungsergebnis bekannt gegeben wird: „Diese Laufzeitverlängerung lehnen wir ab“.
Der Atomausstieg sei parteiübergreifend beschlossen worden. „Einen solchen Konsens aufzukündigen, bedarf gewichtiger Gründe. Diese liegen hier nicht vor – im Gegenteil“, schreibt Trittin. Die Weisung des Bundeskanzlers sei energiepolitisch fragwürdig. „Wir“ werden nicht zustimmen, schreibt Trittin. Aber die Erklärung trägt nur seinen Namen. Das soll wohl sagen: Hier spricht einer für die grüne Seele. Eine Seele, die zuletzt erstaunlich biegsam war. Unter dem Strich auch heute.