Anruf im Corona-Epizentrum: „Ich kann nicht sprechen. Ich muss Sterbeurkunden ausstellen“
23. Dezember 2020
Fast eine Minute läutet das Telefon, bevor sich am anderen Ende der Leitung eine matte Stimme meldet. „Nein“, reden wolle sie nicht, sagt die Dame im Standesamt Zittau, um dann doch einen vielsagenden Satz fallenzulassen. „Jede Minute, die wir sprechen, gehen mir hier Sterbefälle verloren, für die ich Sterbeurkunden ausstellen muss!“ – dann legt sie auf.
In Zittau hat sich das Sterben verändert, zumindest sagen das diejenigen, die mit dem Tod in der sächsischen Kleinstadt tagtäglich zu tun haben. Gestern gab das städtische Krematorium dort bekannt, dass es aufgrund der steigenden Corona-Todesfälle kaum mehr mit den Einäscherungen hinterherkomme. Seitdem werden die Leichen „im Bereich des Hochwasserstützpunktes“ gelagert, „bei Freigabe zur Einäscherung“ sollen sie dann ins Krematorium gefahren werden, teilte die Stadt am Dienstagabend mit.
Besonders im Dezember explodierte nach Angaben der Stadt die Zahl der Toten. Während im vergangenen Jahr im Dezember 45 Menschen starben, waren es in diesem Monat bislang schon 115. Im November verdoppelte sich die Zahl der Toten von 52 im vergangenen Jahr auf 110 in diesem Jahr. Im Oktober 2019 starben 45 Menschen, in diesem Jahr 73.
Seit mehreren Wochen verschlimmert sich die die Corona-Lage in ganz Sachsen, die Lage im Landkreis Görlitz mit seiner gleichnamigen Kreisstadt und dem südlich gelegenen Zittau ist jedoch besonders dramatisch.
Bestatter in Zittau: „Es ist ein Abschied mit Plastikhandschuhen und Schutzanzug“
„Die Geschichten, die uns die Angehörigen berichten, bewegen uns alle sehr“, sagt der Zittauer Bestatter Martin Penzel gegenüber FOCUS Online. Sein Unternehmen habe bereits vier Mal so viele Aufträge diesen Monat erhalten wie normalerweise im Dezember. Normal – „das wären sieben bis 20 Bestattungen im Monat“, ergänzt er.
Verändert habe sich aber auch das Redebedürfnis der Menschen. Viele könnten sich aufgrund der Hygiene-Bestimmungen nicht mehr gebührend von ihren Angehörigen verabschieden, „eine Berührung durch einen Plastikhandschuh oder Schutzanzug ist einfach nicht dasselbe“, sagt Penzel.
Deswegen dauern die Gespräche mit den Angehörigen aktuell oft länger – es brauche einfach Zeit, das Erlebte gemeinsam mit den Hinterblieben aufzuarbeiten, so der Bestatter. Dass sich die Menschen meistens äußerst dankbar zeigen, helfe aber die besonderen Belastungen bei Arbeit zu stemmen.
In Görlitz sollen sie die Särge aus Zittau übernehmen – aber auch hier ist man am Limit
Was die Menschen in Zittau gerade durchmachen, weiß Evelin Mühle aus Görlitz aus eigener leidvoller Erfahrung. Sie leitet das Krematorium in der knapp 40 Kilometer nördlich gelegenen Kreisstadt. „Heute haben sie bei uns angefragt, ob wir Särge aus Zittau abnehmen könnten“, beschreibt sie die Brisanz der Lage gegenüber FOCUS Online. Ihre Antwort auf die Anfrage aus der Nachbarstadt: „keine Chance.“
Denn ähnlich wie in Zittau läuft auch das Krematorium in Görlitz wegen der Pandemie an seiner Kapazitätsgrenze. Allein gestern seien 27 neue Särge angekommen, ähnlich wie in Zittau habe man den Durchschnittswert der Einäscherungen im Dezember längst überschritten.
„Nach Weihnachten ist hier niemandem zumute, weder mir noch meinen Mitarbeitern“, sagt Mühle. Denen möchte sie Danke sagen, „denn alle halten hier tapfer durch in dieser schweren Zeit“. Viele Kollegen hätten von selbst angeboten, auch an den Feiertagen zu arbeiten, berichtet die Krematoriumsleiterin.
Pandemie in Deutschland: Bundeswehr-Soldaten sollen in Zittau helfen
Währenddessen bleibt die Lage auch in Zittaus Kliniken weiterhin angespannt. Das Klinikum Oberlausitzer Bergland (KOB) nimmt mit Stand Dienstagabend am Standort Zittau keine neuen Corona-Patienten mehr auf. Das bestätigte der Landkreis auf Nachfrage der „Sächsischen Zeitung“. Im Klinikum Zittau seien demnach 48 Covid-Betten belegt, darunter sieben Intensiv-Betten.
Zudem werde das Standesamt der Stadt Zittau wegen des dringenden Bedarfs am 24. und 26. Dezember jeweils von 9 bis 12 Uhr arbeiten und ausschließlich Sterbefälle beurkunden, hieß es. Oberbürgermeister Thomas Zenker erklärte: „Die Kolleginnen in unserem Standesamt haben inzwischen Sonderschichten übernommen, um die anfallenden Sterbefälle ordnungsgemäß zu beurkunden. Wir sind organisatorisch an unseren Leistungsgrenzen angekommen und bitten alle Betroffenen um Verständnis.“
Soldaten der Bundeswehr sollen nun auch über den Jahreswechsel in Zittau aushelfen. Weitere Bettenkapazitäten in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen wurden nach Angaben der Stadt organisiert.
Sachsen ist Corona-Hotspot: Sechs von zehn Landkreise mit Inzidenzwert über 500
Sachsen ist seit Wochen mit großem Abstand der größte Corona-Hostspot in Deutschland. Für sechs der zehn Landkreise im Freistaat meldete das Robert Koch-Institut am Dienstag einen Inzidenzwert von mehr als 500. Der Wert gibt an, wie viele Menschen sich je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen mit dem Virus infiziert haben.
An der Spitze lagen demnach am Dienstag der Landkreis Bautzen (637,5) und Zwickau (620), gefolgt vom Landkreis Görlitz (582,1), in dem Zittau liegt. Bundesweit meldete das RKI für Dienstag eine Inzidenz von 198.