„Brandgefährlich“: Top-Virologe Kekulé kritisiert deutsche Corona-Pläne scharf
6. Mai 2020Vor dem Corona-Gipfel am heutigen Mittwoch hat der Virologe Alexander Kekulé die angestrebten Corona-Lockerungen scharf kritisiert.
In einem Gastbeitrag für die „Zeit“ schreibt Kekulé, das Prinzip der „Eingriffe in Intervallen“ sei „brandgefährlich“.
Die Bundesregierung will den Ländern bei den heutigen Spitzenberatungen erhebliche Lockerungen der Corona-Auflagen vorschlagen. In einem „zweiten großen Öffnungsschritt“ sollen alle Schulen bis zu den Sommerferien den Unterrichtsbetrieb wieder aufnehmen.
Die Auflagen sollen zudem regionalisiert werden: Lockerungen sollen dann zurückgenommen werden, wenn die Zahl der Neuinfektionen in einem Landkreis innerhalb einer Woche 50 Fälle pro 100.000 Einwohner übersteigt. Zudem sollen alle Geschäfte unter strengen Hygienevorkehrungen wieder öffnen dürfen.
Experte erwartet im Herbst erneuten Anstieg der Infektionszahlen
Kekulé kritisiert in dem Gastbeitrag das Lockern der Maßnahmen, ohne zugleich ein neues „Schutzkonzept“, etwa einen Impfstoff, zu haben. Dadurch werde es seiner Meinung nach zu mehr Neuinfektionen und schlussendlich auch zu mehr Toten kommen. Das „Beschleunigen und Bremsen“ könne einen Zeitraum bis zur Entwicklung eines Impfstoffes nicht überbrücken.
Denn schon im Herbst erwartet der Experte einen erneuten Anstieg der Covid-19-Erkrankungen auf der Nordhalbkugel. Bis die Krankheit in Europa „durch eine Impfkampagne eingedämmt werden kann, werden mindestens eineinhalb Jahre vergehen“, moniert Kekulé in dem Gastbeitrag.
Er betont auch, dass fünf von sechs Impfstoffkandidaten, die derzeit klinisch getestet würden, auf experimentellen Wirkmechanismen beruhen, die bisher noch nie im Rahmen eines Impfstoffes verwendet worden seien.
Kekulé: „Potenzial, eine ganze Generation psychisch zu traumatisieren“
Insbesondere die Wiederöffnung von Schulen und Kitas kritisiert der Virologe scharf: „Kinder in diesem Alter durch Mundschutz und Hygieneerziehung vor Infektionen zu schützen ist illusorisch und hätte das Potenzial, eine ganze Generation psychisch zu traumatisieren“, schreibt Kekulé in der „Zeit“. Die Öffnung von Grundschulen und Kindertagesstätten sei mit einer „Zunahme der epidemischen Aktivität verbunden“, schreibt Kekulé.
Aber auch bei der Aufklärung des Infektionsgeschehens sieht der Experte große Mängel. So wüsste das Robert-Koch-Institut (RKI) aktuell nicht, welcher Berufsgruppe die gemeldeten Covid-19-Fälle angehörten oder ob in einer Region gemeldete Corona-Ausbrüche im Zusammenhang miteinander stünden (z.B. in Heimen).
Auch die Gesundheitsämter müssten Corona-Infektionen schneller nachverfolgen – „Statt auf die Tracing-App zu hoffen, sollte der konventionellen Nachverfolgung höchste Priorität eingeräumt werden“, moniert Kekulé.
Ohne Vorsichtsmaßnahmen: Kekulé warnt vor „viralem Orkan“
Um Personen, die zur Risikogruppe gehören, besser zu schützen, schlägt der Virologe regelmäßige Testungen von Pflegepersonal und Angehörigen, die ihre Verwandten etwa im Seniorenheim besuchen, vor. Nach dem Ende des Lockdown sollten ältere Menschen Kekulé zufolge zudem professionelle Infektionsschutzmasken (FFP2-Masken) tragen, um eine Corona-Ansteckung zu vermeiden.
Letztlich dürfe man nicht vergessen, dass Deutschland beim Ausbruch der Pandemie „großes Glück“ gehabt habe. Schließlich hätte der Virus, statt Norditalien, auch zuerst Deutschland treffen können. Wenn man jetzt nicht vorsichtig sei, so Kekulé, „könnte dann im Herbst ein viraler Orkan entstehen“.
Focus Online: Mittwoch, 06.05.2020, 07:08