Analyse: Wahl in der Türkei Endet die Ära Erdogan?
14. Mai 2023Die Türkei steht heute vor einer Richtungswahl: Weiter mit Präsident Erdogan – oder bricht eine neue Ära an? Befürchtungen werden lauter, dass Erdogan eine mögliche Niederlage nicht akzeptieren könnte.
Der heutige Tag könnte historisch werden, zumindest aus Sicht der türkischen Opposition. Angetreten ist ein Bündnis aus sechs Parteien, das kaum mehr eint als das gemeinsame Ziel: Recep Tayyip Erdogan von der Spitze des Landes zu verdrängen. Bereits das macht deutlich, was es in der Türkei braucht, um den „langen Mann“, wie ihn seine Anhänger nennen, abzulösen.
Lange hatte es bei diesen Wahlen gebraucht, bis so etwas wie Wahlkampfstimmung aufkam. Vorrangig lag das am verheerenden Erdbeben Anfang Februar. Doch in den vergangenen Wochen wurde es schließlich immer lauter um die Kandidaten und ihre Parteien. Erdogan und sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen CHP, absolvierten beide mehrere Auftritte pro Tag in verschiedenen Städten.
Opposition will Präsidialsystem abschaffen
Kilicdaroglu versprach bei seinen Auftritten immer wieder, das Land zu vereinen, Hass abzubauen und die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Vor allem aber beteuerte er seinen Willen, die Türkei zurück zu einer parlamentarischen Demokratie zu führen, weg vom Präsidialsystem, das unter Erdogan eingeführt worden war.
„Das bedeutet nicht, dass die Türkei ein demokratischer Musterstaat wird“, sagt Kristian Brakel, Türkei-Experte der Heinrich-Böll-Stiftung. „Das war sie auch vor Erdogan nicht. Aber der Rechtsstaat, der in den letzten Jahren so ausgehöhlt worden ist – das ist etwas, was zurückgedreht werden wird. Und das wird einen großen Unterschied machen.“
Wahlgeschenke von Erdogan
Erdogan setzte im Wahlkampf vor allem auf teure Wahlgeschenke. So setzte er das Renteneintrittsalter herunter, weihte einen Drohnenträger, Moscheen, Schnellzüge und sogar eine Erdgaspipeline ein. Übertragen wurde das zumeist live auf zahlreichen türkischen Fernsehsendern gleichzeitig.
Die Auswertung der Online-Plattform DarkWeb Haber ergab 48 Stunden und 45 Minuten Sendefläche für Erdogan in der Zeit vom April bis zum 11. Mai, allein auf dem staatlichen Sender TRT. In der gleichen Zeit erschien Kilicdaroglu dort gerade einmal 41 Minuten.
Kaum Fernsehpräsenz, trotzdem hohe Zustimmung
Und dennoch liegt dieser in den jüngsten Umfragen vorn. Das Meinungsforschungsinstitut ORC, das als sehr zuverlässig gilt, veröffentlichte am Freitag seine letzten Umfrageergebnisse vor der Wahl. Kilicdaroglu führt darin mit 51,7 Prozent, Erdogan liegt mit 44,2 Prozent deutlich dahinter.
Demnach hätte der Herausforderer den Sieg bereits in der ersten Runde in der Tasche. Der Rücktritt eines der vier Kandidaten, Muharrem Ince, einst Parteifreund Kilicdaroglus, könnte diesen dabei zusätzlich unterstützen.
Hohe Inflation und Jugendarbeitslosigkeit
Dass Erdogan diesmal wackelt, liegt vor allem an der wirtschaftlichen Situation im Land. Die Inflation ist laut Opposition dreistellig, offiziell lag sie zuletzt bei 50 Prozent. Die Währung befindet sich ebenfalls auf einem Tiefpunkt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei knapp 20 Prozent. Das Ausmaß des Erdbebens hat bei vielen Menschen die Wut auf die Regierung zusätzlich verstärkt.
Sollte Erdogan wider Erwarten gewinnen, sehen viele Beobachter eine Auswanderungswelle voraus, auch Kristian Brakel. „Ich kenne sehr viele Türkinnen und Türken, gerade junge Leute, die gut ausgebildet sind, die sagen: Das ist die letzte Chance, die ich diesem Land gebe. Wenn es weiterhin bei Erdogan bleibt, dann gehe ich weg.“
Der Westen wird weiter gebraucht
Eine völlige Abkehr der Türkei vom Westen, wenn Erdogan an der Spitze bleibt, fürchtet Brakel hingegen nicht. „Man wird weiterhin mit Deutschland, mit der Europäischen Union und auch mit den Amerikanern ein schwieriges Verhältnis pflegen – aber ein Verhältnis, von dem man weiß, dass man es braucht, gerade aus wirtschaftlichen Gründen. Die EU bleibt der Haupthandelspartner.“
Wie fair die Wahl ablaufen wird – diese Frage wird international immer wieder gestellt. In der Türkei selbst organisieren sich die Parteien mit eigenen Wahlbeobachtern, allein die Opposition stellt rund eine halbe Million. Zahlreiche Initiativen bieten zudem jedem einzelnen Wähler die Möglichkeit, sich als Wahlbeobachter zu beteiligen. Außerdem sollen Tausende Rechtsanwälte an den Urnen stehen, um Unstimmigkeiten zu verhindern.
Wie wird Erdogan reagieren?
Doch viele Beobachter hegen die Befürchtung, dass die Regierung eine Niederlage nicht akzeptieren wird. Andeutungen gab es viele: So sprach der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, ein Hardliner innerhalb Erdogans AKP, von einem „Putschversuch des Westens“, sollte die Opposition gewinnen.
Die wiederum fürchtet in diesem Fall Unruhen und bewaffnete Gruppierungen aus den Reihen der Regierung. Das Sechserbündnis hofft daher am Wahlabend auf eine schnelle Erklärung des Hohen Wahlrats, um mögliche Zweifel am Sieg der Wahl auszuräumen.
Oppositionskandidat Kilicdaroglu trug bei seinen letzten Wahlkampfauftritten eine kugelsichere Weste.
Aggressionen im Wahlkampf
Auch im Wahlkampf machte sich zuletzt eine zunehmend aggressive Stimmung bemerkbar. Am Freitag trat Kilicdaroglu in Ankara und Samsun mit einer kugelsicheren Weste auf die Wahlkampfbühne. Es hatte Warnungen über ein Attentat auf ihn gegeben, berichten türkische Medien.
Bis 17.00 Uhr haben die Wahllokale heute in der ganzen Türkei geöffnet. Die Stimmen der Auslandstürken sind bereits zur Auszählung eingetroffen. Erste Zahlen soll es dann gegen 19.00 Uhr deutscher Zeit geben.