Demos, Verschwörungsfans, Palmer-Chaos: Was braut sich in Deutschland zusammen?

11. Mai 2020 Aus Von mvp-web

Demonstranten, die gegen die Auflagen in der Corona-Krise verstoßen. Ein FDP-Landeschef an der Seite von Verschwörungstheoretikern. Und die Grünen wollen Boris Palmer loswerden. Was braut sich da in Deutschland zusammen? Ein Überblick an einem Tag, an dem „das neue Normal“ beginnt.

Ein veganer, Porsche fahrender, politisierender Koch, der auf einer Demonstration für die freiheitlichen Grundrechte, allerdings gegen die Bundesregierung, von der Polizei abgeführt wird, nachdem er auf einen pöbelnden Reichsbürger losgehen wollte und dabei Virus-Abstandsregeln verletzte;

ein Ex-Kurzzeit-Ministerpräsident und FDP-Landesvorsitzender, der sich vor den Karren von Rechtsradikalen spannen lässt, deshalb nun von seinen Parteifreunden mit dem Rauswurf bedroht wird sich plötzlich für sehr viel entschuldigt, worauf er tags zuvor noch stolz war;

ein freigeistiger Grüner Oberbürgermeister, dem seitens seiner empfindsamen Parteifreundinnen und -freunde das gleiche Schicksal droht; –

man muss es hier an ein Mal festhalten: Seitdem der Corona-Diskurs nicht mehr von diesen humorlosen Virologen monopolisiert wird, hat er deutlich an Unterhaltungswert gewonnen.

Über den Autor: Ulrich Reitz

Ulrich Reitz arbeitete als Korrespondent bei der Welt, war in der Startmannschaft von FOCUS, den er zuletzt führte, und war insgesamt 17 Jahre lang Chefredakteur der beiden größten deutschen Regionalzeitungen „WAZ“ und „Rheinische Post“. Er beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung, der kulturellen Verfasstheit Deutschlands und der Performance seiner Eliten in Politik und Wirtschaft. Reitz versteht sich als wirtschaftlich ordoliberal und politisch konservativ. Er schätzt die gepflegte Kontroverse.

m Ernst: Es wird inzwischen reichlich unübersichtlich. Was braut sich da in Deutschland zusammen? Versuchen wir, die Sache zu ordnen.

Demos: Angst vor materiellem Statusverlust

Erstens: Es gibt seit kurzem diese neuen Demonstrationen, auf denen sich Demonstranten um die Grundrechte sorgen. Wirte beispielsweise, die sich über Wochen hinweg in ihrer Existenz durch die Außenkraft-Setzung der Gewerbefreiheit existenziell bedroht fühlten – zu Recht. Inzwischen fürchtet jeder fünfte Bürger zum Teil gravierende materielle Nachteile als Folge der Corona-Politik. Man kann getrost davon ausgehen, dass die Angst vor materiellem Status-Verlust in den nächsten Wochen und Monaten eher noch wachsen wird.

Dass viele dieser Menschen jetzt in Stuttgart, München, Frankfurt, Leipzig und so weiter auf die Straße gehen, um gegen die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit zu protestieren, war eigentlich überfällig. Genau genommen sind diese Demonstranten zu spät dran – heute beginnt schließlich die Öffnung, also das „neue Normal“, ergo die schrittweise Wiederherstellung jener Freiheit, über deren Verlust sich die Demonstranten beklagen. Dass viele von ihnen dabei die geltenden Abstandsregeln nicht beachteten, sei an dieser Stelle auch erwähnt.

Randgruppen, versuchen die Corona-Wut zu instrumentalisieren

Zweitens: Allerhand Randgruppen versuchen, die angewachsene Corona-Wut für sich zu instrumentalisieren. Rechts wie Linksradikale, Antisemiten, Identitäre, Pegida, der ein oder andere B- oder C-Promi auf der Suche nach vermarktbaren social-media-Anhängern gleichfalls. Diese Mischung macht Innenpolitikern und Verfassungsschützern große Sorge. Sie fürchten eine Ansteckung von empörten Bürgerlichen durch kalt kalkulierende Unbürgerliche, von ganz normalen Corona-Wutbürgern durch Extremisten aller möglichen Schattierungen.

Die Russen, erfahrene Demokratie-Destabilisierer, sind inzwischen längst mit dabei, über ihre deutschen Kanäle RT Deutsch und Sputnik. Längst hat sich zusammen gefunden, was nicht zusammen gehört. Oder doch?

Die Verschwörungstheorie blüht

Drittens: In Zeiten großer allgemeiner Verunsicherung blüht die Verschwörungstheorie. Ihr Wesen ist es, auf komplexe Situationen einfache, eingängige Antworten zu finden und sie mit einem Feindbild zu verknüpfen. Sie machen materiell Interessenten zu Tätern, den Computer-Milliardär und Wohltäter Bill Gates etwa. Hier wären wir bei dem Sänger Xavier Naidoo und unserem veganen Showkoch angekommen. Zum Beispiel.

Attila Hildmann griff auf der Social-Media-Plattform Instagram den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn so an: „Keiner will deine Drecksapp, deine von Gates bezahlte Zwangsimpfung und deinen geplanten Überwachungsstaat.“ In diesem einen Satz ist ziemlich viel von dem enthalten, was Verschwörungstheoretiker gerade so verbreiten. Stiftungschef Gates als vulgär-kapitalistische Projektionsfigur, Jens Spahn als Teil des Politik-Establishments, also von denen da oben, dem nun eine Basis-Bewegung entgegen treten müsse, um einen „Überwachungsstaat“ zu verhindern.

Zu den Absurditäten der Szenerie gehört, dass sich Anti-Bürgerliche zu Verteidigern der bürgerlichen Ordnung aufschwingen. Dummerweise ernten sie Resonanz. An der Entstehung dieses Resonanzbodens ist die Politik nicht unschuldig.

Entwickeln sich Radikale zu den Krisengewinnern?

Viertens: Einige Ministerpräsidenten haben den Stimmungswandel früh erkannt. Die Lockerungspolitik, in der Mitte der vergangenen Woche auf deren Initiative beschlossen, geht eben auch zurück auf die Befürchtung, Radikale könnten sich zu Krisengewinnern entwickeln. Sie könnten damit Erfolg haben, wie schon in der Euro- und später der Flüchtlingskrise, von einer Politik profitieren, die als „alternativlos“ verkauft wird und sich an der Spitze mit Angela Merkel verbindet.

Die Lockerungspolitik ist in dieser Optik ein Stück anti-radikaler Präventionspolitik. Ein Lernergebnis nach dem Aufstieg der AfD seit 2015. Vereinfacht gesagt: Die Öffnungspolitik dementiert die Behauptung vom geplanten „Überwachungsstaat“.

Kemmerich demontiert sich selbst – Grüne wollen Palmer aus Partei werfen

Fünftens: Den doch arg naiven Kemmerich aus FDP werfen zu wollen, wie das die Parteivizin Agnes Strack-Zimmermann ins Spiel bringt, wirkt eher hilflos. Kemmerich, der sich zum nützlichen Idioten von Rechtsradikalen machte, demontiert sich gerade selbst. Parteichef Christian Lindner hat ihn in den Senkel gestellt und damit seine Liberalen vor Kemmerichs bräunlichen Anfälligkeiten geschützt. Das mag vorerst reichen.

Der Furor, mit dem Baerbock/Habeck auf „ihren“ Tübinger Oberbürgermeister Palmer losgehen, wirkt irgendwie auch geschichtsvergessen. Die Grünen waren einmal stolz auf ihre durchaus militante Diskussionskultur. Wollen sie wirklich eine politisch korrekte Pussy-Partei werden?

Eine Frage hätten wir noch an den Koch. Hildmann sagt in einem Video, das am Rande einer Versammlung vor dem Bundestag entstand, dies: „Mein Onkel war bei der Wehrmacht. Ich sage Ihnen eine Sache. Ich bin bereit, für dieses Land zu sterben.“ Für welches Land?

Focus Online: Montag, 11.05.2020, 20:55