„exklusiv“ Anschlag in Hanau Neue Strafanzeige setzt Polizei unter Druck

„exklusiv“ Anschlag in Hanau Neue Strafanzeige setzt Polizei unter Druck

28. September 2023 Aus Von mvp-web

Stand: 28.09.2023 09:31 Uhr

Nach dem Anschlag von Hanau gab es den Verdacht, dass der Notausgang am Tatort „Arena Bar“ verschlossen war. Jetzt gibt es eine neue Strafanzeige – mit schweren Vorwürfe gegen die Polizei.

Max Bauer Von Max Bauer, SWR

Nach Informationen des SWR hat die Familie von Hamza Kurtović heute eine Strafanzeige wegen des mutmaßlich verschlossenen Notausgangs an einem Tatort des Hanau-Attentats gestellt. Hamza Kurtović war am 19.02.2020 in der „Arena Bar“ in Hanau-Kesselstadt erschossen worden. Der Täter tötete damals in der Hanauer Innenstadt und im Stadtteil Kesselstadt neun Menschen aus rassistischen Motiven, anschließend erschoss er seine Mutter und sich selbst.

Der Vorwurf der Strafanzeige: Der Notausgang der „Arena Bar“ sei in der Tatnacht verschlossen gewesen. Deshalb seien die Opfer des Anschlags nicht dorthin, sondern in den hinteren Teil der Bar geflüchtet. Dort hatten sie keine Möglichkeit, dem Täter zu entkommen.

Die neue Strafanzeige

Wer für das Verschließen des Notausgangs verantwortlich sei, könne wegen fahrlässiger Tötung strafbar sein, so die Strafanzeige. Die Anzeige enthält schwere Vorwürfe gegen den früheren Barbetreiber, aber auch gegen die Polizei. Laut der Strafanzeige, die dem SWR vorliegt, sei eine neue Zeugenaussage aufgetaucht.

Ein Zeuge habe selbst mitangehört, wie die Polizei angeordnet habe, den Notausgang der „Arena Bar“ abzuschließen. Der Hintergrund: So habe die örtliche Polizei verhindern wollen, dass bei den häufigen Razzien in der Bar jemand durch den Notausgang entkommen könne.

Erstes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt

Nach dem rechtsterroristischen Anschlag hatten Überlebende und Stammgäste der „Arena Bar“ darauf hingewiesen, dass eine Flucht vor dem Täter durch den Notausgang nicht möglich gewesen sei. Seit Jahren sei die Notausgangstür in der Regel abgeschlossen gewesen und so auch in der Tatnacht. Im ersten Tatortbefundbericht der Polizei nach dem Anschlag steht ebenso, dass die Tür „bei der Tatortaufnahme verschlossen“ war. Dennoch wurde der Notausgang der „Arena Bar“ erst Ende 2020 ein Thema in den Medien. Auch die Staatsanwaltschaft Hanau ermittelte erst über ein halbes Jahr nach dem Anschlag. Und auch nur auf eine Strafanzeige hin, die Angehörige der Opfer gestellt hatten.

Dieses Ermittlungsverfahren zum Notausgang wurde im August 2021 eingestellt. Begründung: Die „Verschlussverhältnisse des Notausgangs“ in der Tatnacht könnten nicht „mit hinreichender Sicherheit aufgeklärt werden“. Die Tür könne bei früheren Versuchen, sie zu öffnen, auch nur geklemmt haben und nicht verschlossen gewesen sein. Außerdem könne nicht sicher davon ausgegangen werden, dass den beiden in der Bar Ermordeten – Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović – eine Flucht durch einen offenen Notausgang geglückt wäre.

Zum Gedenken an die Opfer von Hanau halten Menschen Schilder mit ihren Gesichtern und Namen hoch, außerdem ein Schild mit der Aufschrift "Rassismus tötet".

Hinweise auf verschlossenen Notausgang

An der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren einzustellen, gibt es seit 2021 Kritik. Auch im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags. Eine Rolle spielen hier auch Aufnahmen einer Überwachungskamera in der „Arena Bar“. Auf diesen zu sehen sind Besucher der Bar am Abend des 19.02.2020, bevor die Tat passierte. Die jungen Männer gehen in Richtung Notausgang, verschwinden dann aus dem Sichtfeld der Kamera und kommen gleich darauf zurück. Ein Anhaltspunkt dafür, dass sie nicht durch die Tür nach draußen gelangen konnten.

Demgegenüber hatte der ehemalige Barbetreiber der „Arena Bar“ ausgesagt: „Im Allgemeinen war der Notausgang immer offen.“ Allerdings war der Barbetreiber in dem Ermittlungsverfahren selbst Beschuldigter. Sollte er für den verschlossenen Notausgang verantwortlich sein, könnte er sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben. Die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss haben die Aussagen des Barbetreibers als nicht glaubhaft bewertet.

Ein Gutachten von Londoner Recherche-Experten

Zweifel am Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft gab es auch wegen eines Gutachtens, das das Londoner Recherchekollektiv Forensic Architecture 2022 erstellt hat. Ein Fazit des Gutachtens: Den meisten Barbesuchern hätte die Flucht vor dem Täter gelingen können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre. Die fünf jungen Männer in der Bar – unter ihnen die beiden Opfer Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović – hätten sich wahrscheinlich rechtzeitig in Sicherheit bringen können.

Die Staatsanwaltschaft hingegen habe die Zeit falsch berechnet. Es habe mehr Zeit für eine Flucht gegeben. Allerdings hat die hessische Generalstaatsanwaltschaft 2022 die Entscheidung der Hanauer Staatsanwälte bestätigt, keine Anklage zu erheben.

Die Mutter eines der Ermordeten des Anschlags von Hanau.

18.06.2023

Neue Vorwürfe gegen die Polizei Hanau

In ihrem Einstellungsbeschluss von 2021 stellte die Staatsanwaltschaft Hanau auch fest: Es gebe keine tatsächlichen Anhaltspunkte, dass Polizeibeamte oder das Ordnungsamt Hanau ein Verschließen des Notausgangs angeordnet hätten.

Die neue Strafanzeige behauptet jetzt allerdings, dass es eine solche Anordnung der Polizei gegeben habe. Die Anzeige enthält eine schriftliche Zeugenaussage vom November 2022. Eine Kopie liegt dem SWR vor. Ein Zeuge versichert dort, dass er 2017 persönlich eine Anordnung der Polizei zum Notausgang in der „Arena Bar“ mitbekommen habe.

Eine Anordnung der Polizei?

Der Zeuge selbst sei im Juni 2017 bei einer Razzia in der „Arena Bar“ festgenommen worden. Nach der Festnahme sei er eine Stunde außerhalb der Bar von der Polizei in Handschellen festgehalten worden. Bei dieser Gelegenheit habe er gehört, dass ein Polizist den Barbetreiber angewiesen habe, den Notausgang künftig geschlossen zu halten. Bei Razzien könnten Barbesucher sonst durch den Notausgang entkommen. Die neue Strafanzeige betont: Es gebe klare Ermittlungsansätze, welcher Polizeibeamte mutmaßlich das Verschließen des Notausgangs angeordnet habe.

Vor dem Untersuchungsausschuss hatte der Barbetreiber bestritten, dass es eine solche Anordnung der Polizei gegeben habe, den Notausgang verschlossen zu halten. Auf eine Anfrage der „Frankfurter Rundschau“ hin hatte das Polizeipräsidium Südhosthessen 2022 geantwortet, dass die Polizei „niemals die Weisung oder Aufforderung“ mache, „Notausgänge zu verschließen“.

Eine Akte mit der Aufschrift «Hanau-Untersuchungsausschuss» liegt auf einem Tisch im Plenum des Landtags.

Exklusiv 06.02.2023

Ein zweiter neuer Zeuge

Die Strafanzeige, die jetzt gestellt wurde, enthält auch die Aussage eines weiteren neuen Zeugen. Dieser soll regelmäßig Razzien der Polizei in der „Arena Bar“ von einem gegenüberliegenden Balkon aus beobachtet haben. Von dort aus seien sowohl der Eingang der Bar als auch die Rückseite des Gebäudes zu sehen. Damit also die Seite, auf der man durch den Notausgang herauskomme.

Dabei sei dem Zeugen aufgefallen, dass bei den Razzien der Polizei manchmal Personen durch den Notausgang auf der Rückseite der Bar abgehauen seien. Ab einem bestimmten Zeitpunkt Ende 2017 hätte er dann bei den Einsätzen der Polizei niemanden mehr durch den Notausgang herauskommen sehen. Es hätten auch keine Polizisten mehr die Rückseite abgesichert. Für die neue Strafanzeige ist das ein Anhaltspunkt dafür, dass der Notausgang ab dann in der Regel abgeschlossen war. Und dafür, dass die Polizei das auch zumindest gewusst habe.

Eine Stellungnahme der hessischen Polizei zu den neuen Vorwürfen ist angefragt. Eine Antwort steht derzeit aber noch aus.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Staatsanwaltschaft muss die neue Strafanzeige jetzt prüfen und entscheiden, ob sie erneut ermittelt und ob sie Anklage erhebt. Ob es tatsächlich zu einem Prozess gegen den früheren Barbetreiber oder gar gegen hessische Polizisten wegen des Notausgangs kommt, bleibt abzuwarten.

Ebenso ist offen, ob die neue Strafanzeige auf den Abschlussbericht des Hanau-Untersuchungsausschusses Einfluss hat. Der Bericht soll erst nach der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober veröffentlicht werden.