Wie die Grünen mit der Migrationspolitik ringen

Wie die Grünen mit der Migrationspolitik ringen

30. September 2023 Aus Von mvp-web

Stand: 30.09.2023 02:54 Uhr

Mit den Flüchtlingszahlen steigt der Druck auf die Grünen, sich erneut bei Grundhaltungen zu bewegen. Vizekanzler Habeck wirbt für „moralisch schwierige Entscheidungen“. Die Asylpolitik könnte zur Zerreißprobe werden.

Eine Analyse von Jonas Wixforth, ARD-Hauptstadtstudio

Britta Haßelmann kann man in diversen Interviews in diesen Tagen beim Abwägen ihrer Worte praktisch zusehen. Um die Beschreibung sichtbarer Konflikte tänzelt sie lieber herum. Fragt man die grüne Co-Fraktionsvorsitzende, dann machen die Grünen gerade Migrationspolitik in einem „Spannungsfeld zwischen Humanität und Verantwortung“. Laut Duden ist ein Spannungsfeld „ein Bereich mit gegensätzlichen Kräften, die aufeinander einwirken und auf diese Weise einen Zustand hervorrufen, der wie mit Spannung geladen zu sein scheint“. Man könnte auch sagen: Bei den Grünen gibt es gerade so viel Spannung, dass die Funken fliegen.

Eine in erster Linie an Humanität orientierte Flüchtlingspolitik gehört zur quasi unverhandelbaren Kern-DNA der Grünen. Demgegenüber steht die Verantwortung als Teil einer Bundesregierung, die dringend schnelle und sichtbare Erfolge im Umgang mit steigenden Flüchtlingszahlen braucht, getrieben von Attacken der Opposition und einer sich immer weiter zuspitzenden Lage in den Kommunen. Die Partei ringt auf allen Ebenen mit sich.

Druck in Partei und Regierung

Nach der letzten Bundestagswahl sind vermehrt auch junge Grüne in die Fraktion gekommen, deren politische Sozialisation eng mit ihren Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit verknüpft ist. Der Abgeordnete Julian Pahlke aus Niedersachsen etwa hat vor seinem Bundestagseinzug als Seenotretter gearbeitet. Auf seiner Abgeordneten-Homepage ist neben seinem Namen noch immer ein Rettungsring abgebildet.

Für Grüne wie Pahlke dürfte es schwer zu akzeptieren sein, dass seine Partei in Regierungsverantwortung jetzt einer Politik zustimmt, die aus ihrer Sicht inhuman ist. Hinzu kommt: Statt Brücken zu bauen, legt der Ampel-Partner FDP mit Aussagen wie der des Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai, die Grünen seien in dieser Frage „ein Sicherheitsrisiko für das Land“ noch zusätzliche Steine in den ohnehin schon steinigen grünen Weg. Für die Partei werden komplizierte Entscheidungen in der Migrationspolitik so noch schwieriger.

DeutschlandTrend

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Der Kanzler gibt die Richtung vor

Da ist zum Beispiel die europäische Asylreform, die es unter anderem möglich machen soll, Asylbewerber aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote länger in haftähnlichen Bedingungen an den EU-Außengrenzen festzuhalten, um sie dann doch zurück in ihre Heimatländer zu schicken. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock stimmte dem im Juni zu, große Teile der grünen Basis waren entsetzt. Immerhin hatte Baerbock versucht, die verschärften Regeln der EU-Krisenverordnung zur Migration als Teil der Asylreform zu verhindern und damit auch ein Zeichen an den linken Flügel ihrer Partei zu senden: Keine Sorge, wir geben nicht jede grüne Kernposition auf – das war die Botschaft.

Funktioniert hat das aber nur so lange, bis der Kanzler in dieser Woche die Richtung vorgab und wieder mal eine grüne Position abräumte. Seitdem ist aus der Partei etwas mürrisch zu hören, es werde noch weiter verhandelt, nicht zuletzt im Europäischen Parlament. Dass dabei am Ende viel von der grünen Kernposition übrig bleibt, darf bezweifelt werden.

Olaf Scholz und Annalena Baerbock

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„Alte Gräben zwischen Linken und Realos“

„Das Thema polarisiert enorm. Bei den Grünen zeigen sich gerade wieder alte Gräben zwischen Linken und Realos“, meint die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Grünen Führungspositionen nach wie vor streng paritätisch aus eben diesen beiden Lagern besetzen. Das gilt sowohl für die Duos an der Spitze von Partei und Fraktion, als auch für die Ministerämter. So wird zwar parteiinterne Repräsentation für beide Flügel ermöglicht. „Nach außen kann man zugleich den Eindruck haben, dass Positionen nicht hinreichend diskutiert und abgesprochen sind und so die Konflikte innerhalb der Partei sichtbar werden“, sagt Politikwissenschaftlerin Reuschenbach.

Genau das soll eigentlich in der so genannten Sechser-Runde der Grünen verhindert werden. Sie besteht aus den beiden mächtigen Kabinettsmitgliedern Baerbock und Habeck, der Parteispitze Ricarda Lang und Omid Nouripour und den Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge. Hier schaltet man sich mindestens einmal in der Woche zusammen, um gemeinsame Positionen zu finden. Wie schlecht das häufig klappt, konnte man wiederum bei der europäischen Asylreform beobachten. Baerbock stimmte in Brüssel zu, die Realos Habeck, Nouripour und Haßelmann unterstützen sie, während sich mit Lang und Dröge die linken Mitglieder der Sechser-Runde öffentlich dagegen stellten. Wieder einmal blieb die Frage: Wer gibt hier eigentlich die Richtung vor?

Habeck und Paus sprechen an einem Fenster miteinander (Archivbild)

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Risse oberflächlich kitten

Als die Partei auch formal noch von Annalena Baerbock und Robert Habeck geführt wurde, dachten viele Grüne, die Flügelkämpfe weitgehend überwunden zu haben. Die letzte echte Zerreißprobe zwischen Fundis und Realos war schließlich über zwanzig Jahre her: 1999 schwor der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer seine Partei in Bielefeld auf einen deutschen Kriegseinsatz im Kosovo ein, den ersten seit dem zweiten Weltkrieg. Der Flügelstreit in der bis dahin streng pazifistischen Partei eskalierte.

Kann etwas ähnliches drohen, wenn die Grünen jetzt eine deutlich restriktivere Flüchtlingspolitik mittragen müssen? Zumindest in dem Ausmaß ist das eher unwahrscheinlich. Denn trotz aller Spannungen zwischen den Flügeln haben die Grünen im zweiten Anlauf in Regierungsverantwortung dazu gelernt. Kommunikativ könnte ein Ausweg sein, schwierige Entscheidungen umzudeuten und so die Risse zumindest oberflächlich zu kitten.

Politikwissenschaftlerin Reuschenbach meint, beide Gruppen eine weiterhin, „dass sie einen positiven Blick auf Migration haben und dabei zwar inzwischen zu zunehmend mehr auf die Probleme schauen, aber auch auf mögliche Chancen, die mit in erster Linie legaler Migration einhergehen“. Ob das klappt, wird sich spätestens beim Bundesparteitag im November in Karlsruhe zeigen. Ganz ohne dass die Funken fliegen, wird es aber wohl auch dort nicht gehen.