“interview” Müller zum Haushaltsurteil “Wir haben die Krise nicht herbeigeführt”
21. Dezember 2023Zwölf Jahre war Peter Müller Richter am Bundesverfassungsgericht, nun tritt er ab. Im ARD-Interview spricht er über das Haushaltsurteil des Gerichts, Parteiverbote und persönliche Pläne.
tagesschau.de: Vor gut einem Monat hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter ihrer Mitwirkung ein Urteil zur Schuldenbremse gesprochen. Seitdem herrscht in Berlin quasi die Haushaltskrise. War Ihnen bewusst, welches Erdbeben Sie mit diesem Urteil auslösen?
Peter Müller: Das Bundesverfassungsgericht ist gehalten, das Handeln der Politik am Maßstab der Verfassung zu prüfen. Das haben wir getan. Die Entscheidung ist aus meiner Sicht rechtlich zwingend. Wir haben unserer Aufgabe, Hüter der Verfassung zu sein, entsprochen. Die politischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind jetzt von den Verantwortlichen in Berlin zu bewältigen. Aber wir haben ja nicht diese Krise herbeigeführt. Die Ursache für diese Krise ist der Bruch der Verfassung beim Nachtragshaushalt für das Jahr 2021.
tagesschau.de: Jetzt war es das erste Urteil zur Schuldenbremse, wie sie im Grundgesetz steht. Sie sagen, Ihr Urteil war zwingend. Aber hätte man nicht mit Blick auf diese enormen Folgen – nicht nur auf diesen Nachtragshaushalt 2021, sondern auch auf andere Sondervermögen – auch sagen können: Das ist zwar verfassungswidrig, aber wir beschränken die Wirkung auf die Zukunft?
Müller: Das war ein Verfassungsbruch. Und da kann man nicht sagen: Liebe Leute, Ihr habt die Verfassung gebrochen. Aber da sehen wir jetzt mal drüber weg. Ihr dürft es nur in der Zukunft nicht mehr machen. Wir müssen halt entscheiden, war dieses Gesetz verfassungsgemäß? Das war es nicht. Und dann ist die Regelfolge, dass dieses Gesetz von Anfang an nichtig ist.
tagesschau.de: Es ist die Regelfolge. Aber es gibt zum Beispiel in bestimmten Fällen auch die Möglichkeit für das Gericht, ein Gesetz lediglich für “unvereinbar mit dem Grundgesetz” zu erklären und festzulegen, ab wann es nicht mehr gilt. Warum kam das nicht in Betracht?
Müller: Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, dass wir uns mit der Frage beschäftigen: Führt die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes dazu, dass ein Zustand eintritt, der noch weiter von der Verfassung entfernt ist als der Zustand, der eintritt, wenn die Nichtigkeit einer gesetzlichen Regelung festgestellt wird? Das kann ja durchaus sein. Das war aber hier nicht der Fall. Im Gegenteil, das war eine Entscheidung, die den verfassungsgemäßen Zustand wieder herbeigeführt hat. Hier ging es darum, ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Haushaltsgesetz zu beurteilen. Da ist die Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit nicht anwendbar.
Peter Müller (3. v. l.) neben seinen Kolleginnen und Kollegen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts.
“Das ist keine Ohrfeige für die Politik”
tagesschau.de: Jetzt entsteht durch das Urteil ein bisschen der Eindruck: Die Politik ist mal wieder zu doof in Berlin, steht ja schließlich so im Grundgesetz mit der Schuldenbremse. Allerdings ist es ja auch nicht so, dass so eine Klage bei Ihnen eingeht, Sie kurz ins Grundgesetz schauen und am nächsten Tag sagen, das geht alles so nicht, sondern das dauert auch bei Ihnen seine Zeit?
Müller: Deshalb glaube ich auch, dass diese immer wieder gehörte These, wenn wir eine gesetzliche Regelung beanstanden, das sei eine Ohrfeige für die Politik, die ist falsch. Wir haben Zeit. Wir haben Zeit, sehr grundsätzlich zu fragen: Ist eine Regelung noch im Rahmen der Verfassung oder ist sie es nicht? Diese Zeit hat die Politik nicht. Politik muss sehr schnell über Dinge entscheiden und kann eben nicht so intensiv prüfen, wie wir es tun. Politik ist struktureller Zwang zur Oberflächlichkeit. Das darf man der Politik nicht vorwerfen. Und dann ist halt das Risiko, dass es mal daneben geht, gegeben.
tagesschau.de: Als Sie vor zwölf Jahren an das Bundesverfassungsgericht gewechselt sind, gab es viel Kritik. Denn kurz vorher waren Sie noch Ministerpräsident der CDU im Saarland. Können Sie verstehen, dass sich manche Menschen fragen, wie Politiker über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen entscheiden sollen, für die sie gerade noch Politik gemacht haben?
Müller: Ich finde, das ist eine legitime Debatte, die muss möglich sein, die muss man führen können. Im Ergebnis halte ich die Auffassung: “Wer in der Politik unterwegs war, sollte nicht Verfassungsrichter werden” für falsch. Das Gegenteil ist richtig. Wenn das Gericht die Aufgabe hat, nachzuspüren, was hat der Gesetzgeber gewollt? Was hat er gemeint? Wie muss ich ein Gesetz interpretieren, damit ich weiß, was ist der Inhalt, den ich am Maßstab der Verfassung messen muss? Dann ist es einfach vorteilhaft, wenn in jedem Senat des Bundesverfassungsgerichts der ein oder andere ist, der weiß, wie Gesetzgebung funktioniert. Der die Abläufe der Politik kennt, der die Zwangsläufigkeiten kennt. Das ist für das Gericht bereichernd. Klar ist aber, die Dosis macht das Gift. Das dürfen immer nur Einzelne sein.
tagesschau.de: Eine der bedeutendsten Entscheidungen, die Sie als Berichterstatter in zwölf Jahren Bundesverfassungsgericht verfasst haben, war sicher das Urteil zum NPD-Verbotsverfahren. 2017 haben Sie gesagt: die NPD ist verfassungsfeindlich. Aber das beantragte Parteienverbot haben sie abgelehnt. Mit der Begründung, die Partei ist zu bedeutungslos, um die Demokratie zu gefährden. Wie kam es dazu?
Müller: Ja, wir haben uns das genau angeguckt. Wir haben uns die Verfassungsschutzberichte aus den einzelnen Bundesländern angeschaut. Wir haben uns einzelne Situationen auch in einzelnen Orten angeschaut und sind zu dem Ergebnis gekommen: die NPD ist nirgendwo in den Parlamenten oder in den Gemeinderäten mehrheitsfähig, auf Landes- und auf Bundesebene sowieso nicht. Die Mitgliederzahlen sind rückläufig. Die Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ist minimal. Der demokratische Diskurs wird dadurch nicht in relevantem Umfang gehindert, und auch die Entwicklungsperspektive ist nicht gut. Und dann gibt es keinen Grund, eine solche Partei zu verbieten.
“Das Grundgesetz will engagierte Demokraten”
tagesschau.de: Wann ist der richtige Zeitpunkt, eine Partei zu verbieten? Also anders gefragt: Gibt es auch einen Zeitpunkt, wo eine verfassungsfeindliche Partei vielleicht so stark ist, dass man sie politisch oder auch juristisch oder vielleicht auch rein faktisch gar nicht mehr verbieten kann?
Müller: Eigentlich muss das primäre Bestreben sein, dafür Sorge zu tragen, dass erst gar nicht eine Situation entsteht, in der die Demokratie sich nur noch dadurch helfen kann, dass sie einen Antrag auf das Verbot einer Partei stellt. Gefordert ist das Engagement der Demokraten. In Deutschland ist schon einmal eine Demokratie zugrunde gegangen, weil zu wenige bereit waren, sich in ihren Dienst zu stellen, weil zu viele geschwiegen und weggeschaut haben. Und an dieser Herausforderung hat sich nichts geändert. Und das, glaube ich, ist auch die Philosophie des Grundgesetzes. Das Grundgesetz will engagierte Demokraten. Wenn es gar nicht mehr anders geht, dann gibt es die Möglichkeit des Parteiverbots.
tagesschau.de: Aber wenn das eben nicht gelingt, gibt es dann wirklich noch die Möglichkeit des Parteiverbots – wenn wir uns die Geschichte anschauen – wenn eine Partei erst einmal an der Macht ist?
Müller: Es gibt sicherlich einen Punkt, an dem das kippt. Klar, spätestens mit der “Machtergreifung” kriegen Sie das nicht mehr umgedreht und das ist dann eben eine Frage, die sich dann an die Antragsteller in einem solchen Verfahren richtet. Wann ist der richtige Zeitpunkt erreicht, an dem man sagt: Jetzt müssen wir das Instrument des Verbotes einsetzen?
tagesschau.de: Angenommen, die Bundesregierung kommt nächstes Jahr zu ihnen und bittet Sie um Expertise, weil sie die in vielen Ländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtextremistisch eingestufte AfD verbieten will. Was sagen Sie?
Müller: Die Frage ist klug eingebunden. Aber Sie werden verstehen: Darüber müssen möglicherweise meine Nachfolgerinnen und Nachfolger entscheiden. Das möchte ich nicht jetzt durch voreilige Erklärungen in irgendeiner Art und Weise mit beeinflussen. Da halte ich mich einfach zurück.
tagesschau.de: Ihre Zeit in Karlsruhe ist vorbei. Was machen Sie jetzt? Gibt es schon Pläne?
Müller: Also es gibt einige Anfragen aus unterschiedlichen Bereichen. Aus dem NGO-Bereich, aus der Publizistik, aus dem juristischen Bereich. Ich will mir ein bisschen Zeit lassen, ein bisschen Abstand gewinnen, bevor ich entscheide, was ich mache. Zwei Dinge stehen fest. Erstens: Ich werde kein politisches Mandat mehr anstreben. Kalten Kaffee soll man nicht aufwärmen. Und zweitens: Ganz zu Hause bleibe ich nicht. Das kann ich meiner Frau nicht zumuten.
Das Gespräch führte Kolja Schwartz, SWR