Deutschland steuert jetzt auf totalen Lockdown zu: Ausgangssperre für alle?
14. Januar 2021
Die elfte Lockdown-Woche läuft – doch eine merkliche Entspannung der Corona-Lage in Deutschland bleibt weiter aus. Weder der moderate Lockdown Light im November noch die deutlich verschärfte Dezember-Variante reichen bisher aus, die tiefrote Corona-Zone zu verlassen.
Anders als von der Politik erhofft sind die Infektionszahlen nicht stark zurückgegangen; im Gegenteil: Nicht nur bei den Todesfällen meldete das RKI mit 1188 Corona-Toten zuletzt traurige Rekordwerte. Auch der Tag mit den bisher meisten nachgewiesenen Neuinfektionen seit Beginn der Pandemie – 33.777 Fälle am 18. Dezember – fällt in den Zeitraum, in dem das gesellschaftliche Leben in Deutschland nur mehr auf Sparflamme stattfindet.
Kontaktzahlen sind weiter zu hoch
Wissenschaftler führen das auf ein weiterhin zu hohes Niveau an Kontakten in der breiten Masse zurück. Dass jeder Einzelne genau dieses massiv nach unten schraubt, sei jetzt allerdings noch wichtiger als im ersten Lockdown im Frühjahr, wie Epidemiologe Ralf Reintjes jüngst im Gespräch mit FOCUS Online ausführte.
Denn: Im März oder April waren im Vergleich zu heute deutlich weniger Menschen infiziert und infektiös. Meldete das RKI im Frühjahr in der Spitze 6000 Neuinfizierte in 24 Stunden, sind es heute regelmäßig mehr als 25.000. „Die Wahrscheinlichkeit, dass einer meiner Kontakte infiziert ist, war im ersten Lockdown damit eher gering. Wenn mittlerweile fünf oder zehnmal so viele – je nachdem, wie hoch man die Dunkelziffer annimmt – Infizierte draußen herumlaufen, dann ist das Risiko heute um ein Vielfaches höher und es braucht nur ganz wenige Kontakte, um einer infizierten Person zu begegnen“, erklärt der Professor für Epidemiologie.
Ramelow: „In Thüringen brennt gerade die Hütte“
Ranghohe Politiker wie der bayerische Ministerpräsident verteidigen die erneute Verschärfung des Lockdown-Modus entsprechend vehement. „Wir müssen den Lockdown, den wir jetzt haben, verlängern und an einigen Stellen auch noch vertiefen“, forderte Markus Söder beim digitalen Neujahrsempfang der nordrhein-westfälischen CDU. Zu viele Menschen suchten nach wie vor Schlupflöcher bei den vereinbarten Beschränkungen oder diskutierten Einzelmaßnahmen.
Viele stellten sich zudem als Opfer der Pandemie dar. Die wahren Opfer allerdings seien die fast 40.000 Toten, die seit vergangenem Frühjahr an oder mit dem Virus verstorben seien, betont Söder. Für den Ärger vieler Menschen über die Maßnahmen habe er dennoch Verständnis, vor allem aus wirtschaftlicher Perspektive. Zumindest die versprochenen Wirtschaftshilfen müssten endlich kommen. „Es dauert schon sehr lange, und manches wirkt sehr bürokratisch.“
Dass das Korsett der Corona-Maßnahmen dennoch noch einmal enger gezurrt werden muss, hält auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow für unstrittig. In mehreren Interviews zeigt er sich zuletzt persönlich geläutert; die Zeit der Hoffnung auf vermeintlich eintretende Best-Case-Szenarien sei vorbei, das Virus fange gerade erst an, richtig Fahrt aufzunehmen. Dieser Tatsache müsse man ins Auge sehen. „Ich merke, dass bei mir in Thüringen gerade die Hütte brennt“, erklärte der Linken-Politiker am Sonntagabend im „heute journal“. Für Lockerungen sei deshalb kein Platz mehr, genauso wenig wie für die „Debatte von der Lockerung zur Lockerung“.
Wissenschaftler hatten schon früher harten Lockdown gefordert
Ähnliches wiederholt die Wissenschaft seit mehreren Wochen in zunehmend dringlichem Duktus: Schon Anfang Dezember hatte der prominent besetzte Wissenschaftsrat der Leopoldina einen harten Lockdown noch vor Weihnachten gefordert. „Jeden Tag sterben mehrere Hundert Menschen. Die Krankenhäuser und insbesondere das medizinische Personal sind bereits jetzt an ihren Grenzen und die Gesundheitsämter überlastet“, hieß es damals.
Und auch Corona-Chefmahner Karl Lauterbach, selbst Epidemiologe und SPD-Mann, warnt vor den schlimmsten drei Monaten der Pandemie mit hohen Infektions- und Todeszahlen. Ab April sei durch die Kombination aus besserem Wetter und mehr verfügbarem Impfstoff zwar ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar. Kurzfristig müssten die Zahlen aber dringend deutlich runter; andernfalls droht den Kliniken und dem Gesundheitssystem der Kollaps.
Eine Inzidenz von 50 neuen Infektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche gilt dabei als Mindestziel. Besser noch wären 20 oder 25, sind sich Epidemiologen einig. Nur dann sei die Kontaktverfolgung und wirksame Unterbrechung von Infektionsketten dauerhaft möglich, erläutert Ralf Reintjes, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg lehrt und forscht. „Solange Sie Inzidenzen unterhalb von 50 haben, lässt sich das Infektionsgeschehen in der Regel über längere Zeit recht gut managen. Rutscht man darüber, schnellen die Zahlen oft in sehr kurzer Zeit nach oben.“
Corona-Müdigkeit statt konsequenter Kontaktreduktion
Doch statt konsequenter Kontaktreduktion beobachte er inzwischen eher das Gegenteil. Viele Bürger seien argloser im Umgang mit dem Virus geworden, eine gewisse Corona-Müdigkeit habe sich eingestellt. Die Angst vor einer Ansteckung ist dem Überdruss des ständigen Verzichts gewichen. Ausdruck dessen sind übervolle Ausflugsziele. Wie auf dem Nymphenburger Kanal in München bildeten sich vor allem am Wochenende vielerorts dicke Menschentrauben. Die Sehnsucht nach Unbeschwertheit ist groß; das Ansteckungsrisiko aber eben auch.
Weil das zu viele Menschen offenbar immer noch nicht verstanden haben, könnte Deutschland spätestens im Februar der totale Lockdown drohen, dann nicht nur mit geschlossenen Geschäften, Kitas, Schulen und Kulturbetrieben, sondern auch mit ganztätigen Ausgangssperren und dem Verbot haushaltfremde Personen überhaupt noch zu treffen. Im Robert-Koch-Institut werden Pläne für diese Knallhart-Variante bereits diskutiert, wie FOCUS Online aus Kreisen erfuhr. Das Verlassen der eigenen Wohnung könnte dann nur noch für Arztbesuche, den Einkauf oder in dringenden Fällen erlaubt sein.
Tübingen-OB will trotz hoher Infektionszahlen schnelles Ende des Lockdowns
Ein Ende der strikten Corona-Maßnahmen fordert indes Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). „Es reicht jetzt“, sagte er der „Bild“. Anfang Februar müsse kontrolliert wieder geöffnet werden. Andernfalls stiegen die Schäden an Wirtschaft und Gesellschaft exponentiell. „Der Innenstadthandel ist schon auf der Intensivstation, der fällt bald ins Koma. Die Insolvenzen werden anrollen. Ich meine, wir halten das nicht durch“, so der Grünen-Politiker. Die Zahl der Neuinfektionen zuerst auf unter 50 pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche drücken zu wollen, sei aus seiner Sicht der falsche Weg. Unter diesen Umständen würde der Lockdown noch mehrere Monate andauern müssen.
Mit dieser Auffassung steht Palmer allerdings ziemlich allein auf weiter Flur. Verständlich ist der Ruf nach einem zeitnahen Ende der massiven Beschränkungen allemal; und ja, es hängen viele tragische Schicksale an Pandemie und Lockdown, die weit über die Zahl der Infizierten hinausgehen.