Wirkung der Corona-Maßnahmen Deutschland im Blindflug
14. Januar 202116:47:38
Selbst nach vier Wochen ist unklar, welchen Einfluss der Lockdown auf das Infektionsgeschehen hat. Auch über die Ausbreitung der neuen Mutation ist nichts bekannt. Warum wissen wir so wenig?
Von Dominik Lauck, tagesschau.de
Seit mehr als zehn Wochen gelten in Deutschland scharfe Einschränkungen, seit vier Wochen ein harter Lockdown – und noch immer bleiben die Corona-Fallzahlen hoch. Heute wurden so viele Corona-Tote wie nie zuvor gemeldet. Vor allem aber kann niemand erklären, weshalb die Zahlen nicht signifikant sinken. Ob die Einschränkungen nicht weit genug gehen, ob sich zu viele Menschen nicht an die Regeln halten, ob bereits Mutationen für höhere Zahlen sorgen oder wo genau sich die Betroffenen anstecken – alles weitestgehend unklar. Als „Navigieren im Nebel“ beschrieb der Virologe Alexander Kekulé in der ARD die Ungewissheit.
Selbst die täglichen Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) zum Infektionsgeschehen sind derzeit nur bedingt aussagekräftig – noch immer eine Folge der Feiertage am Jahresende. In dieser Zeit seien Corona-Fälle nur verzögert entdeckt, erfasst und gemeldet worden, so das RKI.
Der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach nennt die Meldeprobleme bei den Corona-Zahlen „unentschuldbar“.
„Ich muss ehrlich sagen, dass ich auch überrascht bin, dass es sich jetzt zwei Wochen nach dem Jahreswechsel noch immer nicht wieder komplett eingependelt hat“, sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im Gespäch mit tagesschau.de. „Das ist in der Tat enttäuschend. Ehrlich gesagt, ist es relativ unentschuldbar, dass wir diese Meldeprobleme haben.“
Mancherorts kämen die Behörden kaum noch hinterher, die Zahlen einzugeben, heißt es aus dem RKI. Es fehle schlichtweg am Personal. RKI-Präsident Lothar Wieler erklärte, die Fallzahlen hätten sich stabilisiert. Genaueres lasse sich aber erst in den nächsten Tagen sagen.
Lauterbach: „Nicht einmal klare Tendenz“
Vom 2. November an galt in Deutschland ein „Lockdown Light“, mit Wirkung ab dem 16. Dezember wurden härtere Maßnahmen erlassen, diese wurden Anfang dieser Woche weiter verschärft, Lockerungen gab es an Weihnachten. Doch noch immer ist unklar, was die Beschränkungen für das Infektionsgeschehen tatsächlich bringen.
„Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, welche Maßnahmen welchen Effekt gehabt haben. Dafür ist es leider immer noch zu früh“, sagt Lauterbach. Es lasse sich noch nicht einmal eine klare Tendenz abschätzen. „Was wir sehen, ist eine Stabilisierung der Fallzahlen, aber keinen wirklichen Rückgang. Das ist natürlich ein enttäuschendes Ergebnis.“
Kaum sozioökonomische Daten vorhanden
Es müssten mehr Daten erfasst werden, fordert der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. „Warum hat das RKI nicht eine Struktur von Daten erhoben, wo man beim einzelnen Infektionsfall Alter, Geschlecht, Beruf, Bildungsgrad, Arbeits- und Wohnort sowie Familienstand weiß?“, fragte er in der ARD. „Dann könnte man ganz andere Informationen über die Dynamik des Infektionsgeschehens abbilden und nicht immer aufführen: ‚Das ist diffus'“. Das sei nach fast einem Jahr Pandemie nicht mehr hinnehmbar.
Systematisch von den Gesundheitsämtern dürfen viele dieser Daten nicht erhoben werden, teilte das RKI mit. Das Infektionsschutzgesetz aus dem Jahr 2000 lege fest, welche Daten auf dem Meldeweg erfasst werden dürfen. „Die Sozialschicht beispielsweise gehört nicht dazu“, erklärt RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher auf Anfrage von tagesschau.de.
RKI: „Solche Studien wären wünschenswert“
Bislang gibt es nur aus der Anfangszeit der Pandemie eine Untersuchung über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Covid-19. Die Studie bezieht sich jedoch vor allem auf internationale Forschungsliteratur, aus Deutschland flossen nur wenige Meldedaten aus den ersten Monaten der Epidemie ein. „Die wenige vorhandene Evidenz deutet aber ebenfalls auf sozioökonomische Ungleichheiten im COVID-19-Geschehen hin“, heißt es in der Auswertung. „Solche Studien wären in Zukunft besonders wünschenswert, auch um die zugrundeliegenden Mechanismen, die zur Entstehung solcher Unterschiede im Infektionsrisiko und der Erkrankungsschwere führen, besser zu verstehen und einer möglichen Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheit gezielt entgegenwirken zu können.“
Mittlerweile habe das RKI mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung eine ausführlichere Studie gemacht, bei der sozioökonomische Daten, wie beispielsweise das Haushaltseinkommen, von Infizierten erhoben wurden, so das RKI. Diese Untersuchung sei jedoch noch nicht abgeschlossen. Ergebnisse werden erst in einigen Monaten erwartet.
„Da wird zu wenig gemacht, das ist ein Manko“, sagt Gesundheitsexperte Lauterbach. Er schlägt vor, Krankenkassendaten auszuwerten. „Ich wundere mich, dass die Kollegen aus der Soziologie das nicht sehr viel stärker machen. In Israel werden so im Rahmen der BioNTech-Verimpfung sehr relevante Daten sehr schnell gewonnen.“
Keine Erkenntnisse zur Verbreitung der Mutationen
Noch völlig unklar ist auch, wie stark die wohl deutlich ansteckenderen Coronavirus-Varianten, die in den vergangenen Wochen in Großbritannien und Südafrika entdeckt wurden, in Deutschland schon verbreitet sind. „Wir haben keinen vollen Überblick über die Varianten“, räumte Wieler ein. Man könne auch noch nicht abschätzen, wie sich die Varianten auf die Situation in Deutschland auswirkten.
Bei der britischen Mutation habe sich erwiesen, dass die Ansteckungsgefahr um etwa 50 Prozent höher liege. Die Auswirkungen können gravierend sein, wie Wissenschaftler vorrechneten. Aufgrund des exponentiellen Wachstums drohe in kürzester Zeit eine völlig neue Dimension der Ausbreitung.
„Ich glaube selbst, dass die neuen Varianten in Deutschland bisher noch eine untergeordnete Rollen spielen. Sonst sähen wir eine ganz andere Dynamik“, meint Lauterbach. Dem RKI sind bisher 16 Fälle der in Großbritannien aufgetauchten Mutation bekannt, dazu vier Fälle aus Südafrika.
Allerdings wurde in Deutschland bei Corona-Tests in der Vergangenheit nur selten auf Mutationen geprüft. Bis Jahresende wurde im Schnitt nur jeder 900. positive Corona-Test einer solchen Analyse unterzogen. In Großbritannien wurde dagegen bei jedem 20. Ergebnis auch eine Sequenzierung des Erbgutes des Virus vorgenommen. Deshalb gibt es dort genauere Daten zum Ausmaß der Verbreitung. Hierzulande ist der Anteil untersuchter Proben viel zu gering, um Rückschlüsse zu ziehen.
Mehr Daten erforderlich
Das soll sich nun ändern. Die Bundesregierung kündigte kürzlich an, die Anstrengungen zu verstärken. Labore sollen wöchentlich bis zu fünf Prozent ihrer Corona-Tests molekular untersuchen und die Ergebnisse an das RKI übermitteln, welches die Daten sammelt. Die Auswertung selbst erfolgt dann durch das nationale Coronaviren-Konsiliarlabor an der Berliner Charité.
Wie jedoch das Infektionsgeschehen besser erfasst werden kann, ist weiterhin unklar. Es geht nur über mehr Daten, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Nur so könnten die Grundlagen für politische Entscheidungen verbessert werden. „Wir können unsere Entscheidungen noch nicht gut begründen, auf Grundlage von Daten“, sagt der Forscher. „Wir wissen nicht mal hinterher, was ausschlaggebend gewesen ist.“
Wieler zeigte sich heute zuversichtlich, dass das Coronavirus im Jahresverlauf durch die Impfungen in den Griff zu bekommen sei. „Am Ende dieses Jahres werden wir diese Pandemie kontrolliert haben“, sagte er. Wie es bis dahin weitergeht, bleibt jedoch ein Rätsel.