Deutschlands erster B.1.1.7.-HotspotPfleger weiß, wie Mutante in Quarantäne-Klinik kam – tragen sie schon Hunderte Berliner in sich?
23. Januar 2021
Freitagabend, kurz nach 22.00 Uhr, Humboldt-Klinikum in Berlin-Reinickendorf: Klinik-Mitarbeiter Sandro L. (Name geändert) ist schon seit Stunden im Dienst. 30 bis 60 Notfallpatienten werden jede Nacht in das 660-Betten-Haus eingeliefert. Platzwunden, Knochenbrüche, Herzinfarkt: Für Sandro L. ist das Routine. Doch dann kommt eine Anweisung von der Klinikleitung, die es so noch nie gegeben hat: Aufnahmestopp! Keine Patienten mehr reinlassen – außer bei unmittelbarer Lebensgefahr!
Mutation in Berliner Klinik: „Wir wussten, dass es uns trifft – aber keiner dachte, dass sie sich so schnell ausbreitet“
„Die Krankenwagen fuhren uns nicht mehr an. Es war plötzlich ruhig, fast gespenstisch“, sagt Sandro L. im Gespräch mit FOCUS Online. Der Klinik-Mitarbeiter will anonym bleiben, offiziell darf er sich gegenüber Medien nicht zu den jüngsten Vorkommnissen in der Humboldt-Klinik äußern. Das Haus steht seit Freitagabend unter Quarantäne – und unter Schock.
„Wir wussten, dass wir die Corona-Mutation im Haus hatten – und das war im Prinzip auch nichts Ungewöhnliches. Wir behandeln die meisten Corona-Fälle in Berlin. Da war es klar, dass es uns irgendwann trifft. Aber, dass sich die Mutation trotz aller Hygiene- und Sicherheitsvorkehrungen dann so rasant ausbreitet, damit hat keiner gerechnet“, sagt Sandro. L..
Bereits am 14. Januar wurde der erste B.1.1.7.-Fall im Humboldt-Klinikum offiziell bestätigt. Am Samstagnachmittag dann die Schockmeldung: 14 Personen – Patienten wie auch Klinikmitarbeiter – wurden positiv auf die neue, gefährlichere Virus-Variante getestet. Inzwischen sind nach neuesten Angaben der Klinikleitung schon 20 Personen an der Virus-Mutation erkrankt (Stand: 23.1., 18.00 Uhr). Den sprunghaften Anstieg der Zahlen hätten mehrere Routinescreenings ergeben. Offenbar nahm der Virusausbruch seinen Anfang auf der Station 13.1., ein spezieller Bereich für Innere Medizin und Kardiologie, teilt das Klinikum auf Anfrage von FOCUS Online am Samstag mit.
Zwei Patienten brachten Mutation in Humboldt-Klinik: „Nichts deutete auf Covid-19 hin“
Am Freitagabend hat das zuständige Gesundheitsamt die Reißleine gezogen und einen Aufnahmestopp verfügt. Die Klinik nimmt keine Notfälle mehr auf, der Zugang zum Gebäude wurde verschärft und Mitarbeiter müssen in die so genannte Pendel-Quarantäne, das heißt, sie dürfen nur noch zwischen Arbeit und Wohnung pendeln. „Es ist eine weitreichende Entscheidung, die nur in enger Abstimmung mit Pandemie-Stab, Hygiene-Beauftragten und den Akteuren des Gesundheitsamtes Reinickendorf und des RKI getroffen werden konnte“, erklärt die Klinikleitung den Schritt.
Um den massiven Ausbruch der Corona-Mutation in dem Hauptstadt-Klinikum unter Kontrolle zu bringen, werden derzeit alle Mitarbeiter und Patienten getestet, berichtet Sandro L. gegenüber FOCUS Online. Jeder positive PCR-Test soll dann auf die neuartige Virus-Variante hin untersucht werden, um sich ein Bild vom wahren Ausmaß des Mutations-Ausbruchs zu machen.
Noch am Freitagabend wurde auch bei Sandro L. ein Abstrich genommen. „Ich hatte Kontakt zu zwei Patienten, die später positiv auf die neue Mutante getestet wurden.“ Sandro L. hatte keine Ahnung, dass er Patienten vor sich hatte, die an der neuen Mutation erkrankt sind. „Der eine wurde wegen Herzinsuffizienz eingeliefert, der andere wegen Nieren-Problemen. Nichts deutete auf Covid-19 und schon gar nicht auf die neue Mutation hin.“
Berlin: Tragen vielleicht schon Hunderte die Mutation in sich?
In diesen Stunden befindet sich Sandro. L. in seiner Berliner Wohnung in Quarantäne. Angst davor, selbst an der Corona-Mutation zu erkranken, hat er nicht. Dennoch ist er in großer Sorge: „Hunderte meiner Kollegen waren in den letzten Tagen zu Hause bei ihren Familien, sie waren unterwegs, beim Einkaufen. Es könnte sich bald herausstellen, dass nicht nur 20, sondern vielleicht schon 200 oder noch viel mehr infiziert sind. Das wäre eine Katastrophe für uns – und für Berlin.“
Offenbar sind inzwischen auch bei Angehörigen des Klinikpersonals erste Symptome aufgetreten. Und auch die Klinikleitung räumt gegenüber FOCUS Online ein, es sei „wahrscheinlich, dass täglich weitere Fälle mit der Virusvariante festgestellt werden und die Entwicklung der Zahlen sehr dynamisch bleibt“. In Berlin gibt es also Deutschlands ersten B.1.1.7.-Notfall – und sein Ausmaß ist noch lange nicht abzusehen.