Forscher kritisiert: Milliardenteure Lockdowns werden mit verzerrten Todeszahlen gerechtfertigt

26. Januar 2021 Aus Von mvp-web

20:52:20
In der vergangenen Woche vermeldete das Robert-Koch-Institut erneut hohe Zahlen von teilweise über 1000 Corona-Toten pro Tag. Ein Forscher aus Berlin kritisiert allerdings: Die Zahlen würden kaum zur Beurteilung des aktuellen Infektionsgeschehens beitragen und uns ein verzerrtes Bild vermitteln.

Die Zahl der Corona-Toten, die das RKI täglich vermeldet, schwankt derzeit enorm. Waren es am Montag vergangener Woche noch 214 Todesfälle, stiegen die Werte am Mittwoch und Donnerstag wieder auf über 1000 Fälle an. Erst am Freitag gingen sie etwas zurück auf 859 Fälle. Insgesamt also weiter erschreckend hoch – auch wenn sich mittlerweile durch sinkende Inzidenzen eine leichte Verbesserung der Lage abzeichnet.

Dass gerade die in ihrer derzeitigen Form täglich veröffentlichten Sterbezahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Rechtfertigung für politische Entscheidungen mit ins Feld geführt werden, sieht der Mediziner und Soziologe Bertram Häussler vom Gesundheitsforschungsinstituts IGES in Berlin allerdings kritisch. Seit August veröffentlichen er und sein Team mit dem Pandemie MonitorAnalysen rund um das Infektionsgeschehen. „Die täglich vom RKI vermeldeten Sterbefälle sind so veraltet, dass sie ein verzerrtes Bild zeigen“, erklärt Häussler im Gespräch mit FOCUS Online.

Grund dafür sei ein erheblicher Verzug in der Übermittlung der Sterbezahlen. „Durchschnittlich spiegelt die vom RKI täglich veröffentlichte Anzahl der Todesopfer den Stand von vor etwa drei Wochen wider“, sagt der Mediziner. Das bedeutet, dass die Corona-Opfer, deren Anzahl jeden Tag vermeldet wird, nicht innerhalb der letzten 24 Stunden verstorben sind, sondern eben schon Tage oder gar Wochen vorher – sie wurden lediglich am Vortag übermittelt.

Trotz hoher Zahlen – die Todesfälle sinken bereits

„Tatsächlich sagen diese Zahlen sehr wenig über die aktuelle Lage aus und vermitteln ein falsches Bild“, erläutert Häussler. So zeigten die Todesfallzahlen im Oktober 2020 eine viel positivere Situation, die nicht zu den damals bereits stark steigenden Neuinfektionen passte.

Umgekehrt erzeugten die derzeit hohen Sterbezahlen ein übertriebenes Bild der aktuellen Situation. „Die extrem hohen Todeszahlen seit Beginn des Jahres gehen auf Infektionen Ende November bis Anfang Dezember zurück. Dabei befinden wir uns derzeit in einer Phase, in der die Zahl der Verstorbenen stark abnimmt“, erklärt Häussler.

Das schließen Häussler und sein Team aus ihrer Studie, für die sie die Zwischenstände der Neuinfektionen und Todesfälle der RKI-Falldatenbank, die täglich überschrieben werden, zwischengespeichert haben. Dadurch konnten sie rückwirkend ausrechnen, wie viele Todesmeldungen jeden Tag dazukommen.

„Am 15. Januar beispielsweise hat das RKI 1113 neue Todesfälle für den Vortag vermeldet – unsere Analyse zeigt aber, dass am Vortag nur 20 Menschen gestorben sind“, erklärt der Forscher. So verhalte es sich auch mit den teilweise sehr hohen Fallzahlen der vergangenen sieben Tage. „In etwa drei Wochen werden wir feststellen, dass beispielsweise die Zahl von 1148 Toten am 20. Januar tatsächlich nur etwa halb so hoch sein wird“, prognostiziert Häussler.

Ein grundlegendes Problem sei aber, dass die Öffentlichkeit die RKI-Sterbezahlen für aktuell halte und auch Politiker sie häufig fälschlicherweise so darstellten, kritisiert Häussler. Das RKI wiederum weise nicht explizit genug darauf hin, dass dies eine Falschinterpretation sei.

Krankenhäuser melden Todesfälle nicht direkt ans RKI

Zu einem Meldeverzug von durchschnittlich drei Wochen käme es durch den großen zeitlichen Abstand zwischen der Meldung der Infektion und der Übermittlung an das RKI, dass der Betroffene verstorben ist – die administrativen Vorgänge dauerten circa eine Woche. „Laut Infektionsschutzgesetz sollten Krankenhäuser eigentlich einen Meldebogen des RKI ausfüllen, das tun sie aber in der Regel nicht.“ Stattdessen stellten Ärzte im Krankenhaus nur einen Totenschein für das Standesamt aus, das den Fall dann dem Gesundheitsamt meldet.

„Bis die Gesundheitsämter die Meldung an das RKI machen können, müssen sie jedem Todesfall noch den Bescheid über den Verdachtsfall sowie einen positiven Testbescheid zuordnen. Erst dann können die Sterbefälle als Corona-Tote an das RKI übermittelt werden“, erklärt Häussler das komplizierte Prozedere. Der erhebliche zeitliche Verzug bis zur Meldung ans RKI entstünde dadurch, dass diese Zuordnung viel Zeit in Anspruch nehme, die Gesundheitsämter aber bereits mit der Nachverfolgung aktueller Infektionen total überlastet seien.

„Unser Meldesystem bietet uns keine gute Orientierung“

Dass wir also heute nicht genau wissen, wie viele Menschen am Vortag gestorben sind und somit kein aktuelles Bild der Lage haben, hält Häussler für gefährlich. „Unser Meldesystem bietet uns keine gute Orientierung – gerade, wenn es darum geht, Lockdown-Entscheidungen zu treffen, die uns Milliarden kosten.“

Um die Lage zu verbessern, müssten nicht nur die Krankenhäuser, wie laut Infektionsschutzgesetz eigentlich vorgesehen, direkt an die Gesundheitsämter melden, sagt Häussler. Auch die Gesundheitsämter selbst müssten technisch und personell so ausgestattet sein, dass eine sofortige Meldung an das RKI ohne großen Zeitverzug erfolgen kann.

Da nicht zu erwarten ist, dass dies in absehbarer Zeit bundesweit geschieht, schlägt Häussler eine andere Methodik vor. „Man müsste in repräsentativen Landkreisen vier bis fünf Gesundheitsämter so einrichten, dass die Meldeketten perfekt funktionieren“, führt er aus. Diese könnten dann als Seismographen und Korrektiv für das ganze Land dienen.

Entwicklung der Todeszahlen von März 2020 bis 24. Januar 2021

ourworldindata.org Entwicklung der Todeszahlen von März 2020 bis 24. Januar 2021

Lockdown-Verlängerung zu früh entschieden

Dass Bund und Länder den Lockdown bis zum 15. Februar verlängert haben, hält Häussler für eine übereilte Entscheidung. Bevor man weitere Maßnahmen ergreift, hätte man auch noch bis zum 31. Januar abwarten können: „Es gibt ja Hinweise, dass der seit 15. Dezember verschärfte Lockdown wirkt, auch wenn die RKI-Zahlen der Neuinfektionen derzeit immer noch aufgrund der Feiertage und einer daraus resultierenden Meldeverzögerung von mehr als 60.000 Fällen kein genaues Bild liefern“, sagt Häussler.

So zeigten die Daten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) seit 4. Januar einen Rückgang der Intensivpatienten um rund 20 Prozent. Daraus wiederum lasse sich schließen, dass auch die tatsächliche Zahl der Neuinfektionen seit den Weihnachtstagen zurückgegangen sei, da die bisherigen Lockdowns immer nach rund elf Tagen Wirkung zeigten.

Auch in Bezug auf das neue Virus, fordert Häussler ein fundiertere Basis für Entscheidungen: „Wir können nur durch konsequente Sequenzierung feststellen, ob Infektionen und Ausbrüche auf das neue Virus zurückzuführen sind.“ Informationen darüber und genauere Daten zu aktuellen Todesfällen könnten uns helfen, die Lage viel besser einzuschätzen.