Merkel und die Mutante: Sie warnt, doch niemand weiß, was das Virus gerade macht

4. Februar 2021 Aus Von mvp-web

17:02:57
Die Angst vor den Corona-Mutationen treibt die politischen Entscheider in Deutschland vor sich her – und wohl in eine Verlängerung des Lockdowns. Wie verbreitet sie jedoch sind und wie sich das Virus unter immer größerem Mutationsdruck verhält, weiß hierzulande niemand. Das liegt auch an den mangelhaften Strukturen.

Es ist schon eine Krux mit diesem Virus. Dachte die Pandemie geplagte Weltgemeinschaft, sie befände sich endlich auf halbwegs sicherem Weg in Richtung Normalität, wartet SARS-CoV-2 bereits mit einer neuen Perfidität auf, schlägt den nächsten Haken, um seinem Ende zu entkommen.

War 2020 das Jahr des Virusausbruchs, ist 2021 das Jahr seiner Mutationen. Politik und Gesellschaft versuchen derzeit irgendwie Schritt zu halten mit den Varianten aus Großbritannien und Südafrika, die durch ihre genetischen Veränderungen schneller von Mensch zu Mensch springen können als der Ursprungsvirus.

Wie schwer dieses Schritthalten jedoch fällt, lässt sich derzeit vor allem an der Bundeskanzlerin erkennen. Zum einen muss Merkel den Menschen bei fallenden Inzidenzzahlen im Land erklären, warum Lockerungen weiterhin kaum oder nur in homöopathischen Dosen möglich sind. Zum anderen fehlen ihr selbst die Daten darüber, was die Mutationen in Deutschland aktuell so schnell antreibt. Denn bei der Überwachung bereits bekannter und der Erkennung möglicher neuer Mutationen mittels Genom-Sequenzierung liegt in Deutschland so manches im Argen.

Coronavirus: Überwachungs-Netzwerk in Deutschland mangelhaft

Um zu erfassen, wie sich Erreger verhalten und verändern, benötigt es ein engmaschiges Labor-Netzwerk, das möglichst kontinuierlich Proben nimmt und auswertet. In Deutschland gibt es das –  allerdings bisher nur für das Grippe-Virus. Über 1000 regional verteilte Hausarztpraxen betreiben ein gründliches Influenza-Screening und können so relativ exakt beobachten, wann und wie sich das Grippe-Virus verändert. Deutlich löchriger sieht das Netz bei der SARS-CoV-2-Überwachung aus.

Für Corona und andere Infektionserreger habe man es in Deutschland versäumt, angemessene Strukturen zu schaffen, kritisiert der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg und ehemalige Präsidenten der Gesellschaft für Virologie, Hartmut Hengel, im Gespräch mit FOCUS Online. Seit Jahren fehle es an staatlichen Investitionen und das bekomme man nun zu spüren. „Bisher haben wir nur auf dem Niveau eines Entwicklungslandes sequenziert“, sagt er.

Mutationen seit September – Verordnung erst am 18. Januar

Eine Feststellung, die das Bundesgesundheitsministerium (BMG) erst machte, als die Meldungen über neue Virusvarianten aus Südafrika und Großbritannien auch in Deutschland bereits angekommen waren. Erstmals nachgewiesen wurde der neue Virusstamm B.1.1.7. Ende September 2020 in Proben aus Südengland und London. Gesundheitsminister Jens Spahn erließ jedoch erst am 18. Januar eine Verordnung zur molekulargenetischen Surveillance von SARS-CoV-2. Dort setzt sich das BMG ambitionierte Ziele. Bei mehr als 70.000 Neuinfektionen pro Woche in Deutschland sollen rund fünf Prozent der positiven Proben sequenziert werden und das Robert-Koch-Institut übermittelt werden. Sind es weniger Fälle sollen es sogar zehn Prozent sein.

Coronavirus: Von seinen Zielen ist das BMG weit entfernt

Die mangelhaften staatlichen Strukturen versucht der Bund indes durch finanzielle Anreize auszugleichen. 220 Euro bekommt ein Labor für jede durchgeführte Sequenzierung. Insbesondere für kommerzielle Großlabore wird die Sequenzierung dadurch zu einem lukrativen Geschäftszweig, obgleich der Start der Initiative dennoch nur schleppend anläuft; von seinen Sequenzierungs-Zielen ist das BMG derzeit weit entfernt.

Auf Anfrage von FOCUS Online bestätigte das RKI, dass in der letzten Januarwoche bei 75.585 Neuinfektionen in Deutschland nur 110 neue Sequenzierungen der Datenbank hinzugefügt wurden: 0,15 Prozent also. An der Fünf-Prozent-Marke kratzt Deutschland somit nicht einmal ansatzweise.Wenn die Kanzlerin mit den Länder-Chefs in der kommenden Woche über eine mögliche Verlängerung des Lockdowns berät, bleibt ihr somit weiterhin nur der Blick ins Ausland, um ihre Entscheidungen mit Daten zu unterfüttern. Wie verbreitet die Mutationen in Deutschland sind und auf welche Weise sich das Virus möglicherweise weiter verändert, dazu tappen die politischen Entscheider nahezu im Dunkeln.

Je höher die Impfquote wird, desto wichtiger wird das Screening

Dass der Politik bei ihren weitreichenden Eingriffen in die persönliche Freiheit der Bürger nicht alle substanziellen Daten zur Verfügung stehen, mag viele zurecht verärgern. Gleichzeitig bringt die Trägheit bei der Virus-Überwachung ein zusätzliches, globaleres Problem mit sich.

Denn aufgrund der steigenden Impfquote in Deutschland, nimmt auch der Selektionsdruck auf das Coronavirus innerhalb der Bevölkerung immer weiter zu. „Das Virus muss jetzt wirklich zeigen, wie es um seine virologische Fitness steht“, beschreibt Hengel den Kampf, der sich für die kommenden Monate abzeichnet. Es werde versuchen, sich in der Gegenwart von Antikörpern zu vermehren, meint der Experte, „und wir wissen von anderen Coronaviren, dass sie das können, solange die Antikörper-Konzentrationen suboptimal sind“.

Findet das Coronavirus einen Weg, den Impfschutz zu umgehen?

Die große Sorge dabei: Das Virus findet nicht nur einen Weg, sich leichter an menschliche Zellen zu binden, sondern schafft es zudem, den Schutzmechanismus der entwickelten Impfstoffe zu umgehen. Wie real diese Bedrohung bereits ist, zeigt sich an der südafrikanischen Virusmutation 501Y.V2.

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Ausgerechnet dort führten die beiden Impfstoffhersteller Novax und Johnson&Johnson unter anderem ihre Zulassungstests durch und erhielten somit wertvolle Daten zur Wirksamkeit ihrer Vakzine gegen die Mutation. Die Studienergebnisse sind dabei wenig ermutigend. Im Vergleich zu einer weiteren Teststudie aus den USA sank die Schutzwirkung bei Johnson&Johnson in Südafrika von 72 auf nur noch 57 Prozent ab. Für Novax fiel das Ergebnis noch drastischer aus. Bot der Wirkstoff im Rahmen einer Studie in Großbritannien noch einen 90-prozentigen Schutz, waren es in Südafrika gerade einmal noch 60 Prozent.

Deutschland: Viel Zeit bleibt nicht

An diesem Punkt treffen Virusmutation und Screening aufeinander. Denn nur wer genau überwacht, was das Virus als nächstes ausheckt, ist auch in der Lage, „Impfstoffe jederzeit zu aktualisieren und wirksam zu halten“, sagt Virologe Hengel.

Der Druck auf das Virus zur Veränderung wird durch die steigende Impfquote auch hierzulande steigen. Noch ist Deutschland allerdings nicht in der Lage, das damit einhergehende Risiko zu überwachen. Immerhin gibt sich Hengel in diesem Punkt optimistisch: „Mit den finanziellen Anreizen erwarte ich, dass wir das Niveau von fünf bis zehn Prozent erreichen.“