Täglich bis zu 1000 Covid-ToteStatistiker zieht Corona-Bilanz: Trotz Pandemie gab es 2020 keine Übersterblichkeit
6. Februar 2021
Trotz langsam zurückgehender Inzidenz vermeldet das RKI seit Wochen eine hohe Anzahl an Covid-19-Toten von teilweise über 1000 Fällen pro Tag. Es scheint also ganz klar zu sein, dass wegen Corona deutlich mehr Menschen in Deutschland sterben als es normalerweise der Fall wäre.
Dass dieser Eindruck aber nicht ganz richtig ist, erklärt der Statistiker Göran Kauermann von der LMU München im Gespräch mit FOCUS Online. „Wir haben bei der Auswertung der Todeszahlen der Vorjahre im Vergleich zum letzten Jahr gesehen, dass es über das ganze Jahr hinweg betrachtet durchschnittlich in ganz Deutschland kaum eine nennenswerte Übersterblichkeit gab.“
Auch ohne Corona wären 2020 circa 40.000 Menschen gestorben
Dazu haben er und ein Team von Statistikern anhand der Sterbedaten des Statistischen Bundesamtes von 2016 bis 2020 eine standardisierte Mortalitätsrate errechnet und sie mit den vom RKI vermeldeten Covid-19-Zahlen in 2020 verglichen.
Damit die Ergebnisse nicht verfälscht werden, haben die Forscher unter anderem auch den Altersfaktor berücksichtigt. „Gerade 2020 gab es einen noch höheren Anteil an über 80-Jährigen, die auch ohne Corona zu einer erhöhten Sterberate geführt hätten.“ So wären nämlich im vergangenen Jahr ohnehin 40.000 Tote mehr zu erwarten gewesen als es durchschnittlich in den Vorjahren der Fall war.
Bei der Gruppe der über 80-Jährigen zeigt sich deutliche Übersterblichkeit
Dass sich für Gesamtdeutschland trotz Corona im vergangenen Jahr keine nennenswerte Übersterblichkeit ergab, darf dennoch nicht falsch interpretiert werden – oder gar als Argument zur Verharmlosung von Corona genutzt werden.
Denn bei genauerer Betrachtung der Zahlen gerade zum Ende des letzten Jahres hin zeigt sich sehr wohl ein differenzierteres Bild. „Wir sehen anhand dieser Berechnungen, dass es in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen eine leichte Untersterblichkeit gab, in der Gruppe der 60- bis 79-Jährigen aber zum Jahresende eine leichte Übersterblichkeit“, so der Forscher.
Ganz anders aber das Bild in der Gruppe der über 80-Jährigen: „Hier zeigt sich eine deutliche Übersterblichkeit zum Ende des letzten Jahres hin“, führt Kauermann aus. So konnten die Forscher gerade in der letzten Dezemberwoche eine Übersterblichkeit von 30 Prozent feststellen.
Auf das ganze Jahr betrachtet, gleichen sich die Zahlen aber aus. Daher sei es viel aussagekräftiger, wenn man bei der Übersterblichkeit kürzere Zeiträume und einzelne Bundesländer anschaue.
Übersterblichkeit von 100 Prozent in Sachsen
„Die Übersterblichkeit bei den über 80-Jährigen zum Ende des letzten Jahres zeigt, dass der Lockdown light im November für diese vulnerable Bevölkerungsgruppe keine Wirkung gezeigt hat und ausgerechnet die Gruppe, die am meisten Schutz gebraucht hätte, auch am meisten betroffen war“, erläutert Kauermann weiter. Erst durch den verschärften Lockdown am 16. Dezember zeige sich nun allmählich eine Verbesserung der Lage – auch wenn die derzeit noch vermeldeten Todeszahlen bedingt durch einen mehrwöchigen Meldeverzug teilweise noch sehr hoch seien.
Auch bei dem Blick auf die einzelnen Bundesländer ergibt sich in punkto Übersterblichkeit ein anderes Bild: So zeigte sich beispielsweise in Bayern und Baden-Württemberg gerade zum Jahresende eine Übersterblichkeit von 20 Prozent – in Sachsen liegt die sogar noch höher. „Gegenwärtig liegt die Übersterblichkeit dort sogar bei 100 Prozent.“
Das Interessante sei, dass es gerade in Sachsen aber auch eine Übersterblichkeit ohne die Corona-Toten gäbe, so der Münchner Wissenschaftler. „Woran das genau liegt, wissen wir nicht, aber wir vermuten, dass eventuell viele alte Menschen, die sich in Heimen infiziert haben und Wochen später starben, nicht als Corona-Tote gemeldet wurden.“
Schlechte Datenlage macht evidenzbasiertes Handeln schwierig
Auch wenn Kauermann seine Aufgabe nicht darin sieht, aus den Zahlen Handlungsempfehlungen abzuleiten, lassen sich rückwirkend dennoch Schlüsse über die Gesamtwirkung der Maßnahmen daraus ziehen. „Der Lockdown light hat uns gar nichts gebracht. Wir haben es versäumt die vulnerable Gruppe zu schützen. Das belegen die Zahlen eindeutig.“ Deshalb wünsche er sich gerade für die Zukunft, wenn es darum geht, politische Maßnahmen zu ergreifen, evidenzbasiertes Handeln.
Dies sei allerdings wegen der schlechten Datenlage in Deutschland schwierig – denn für viele Analysen fehlten die Zahlen. „Wir können zum Beispiel statistisch gar nicht genau erfassen, welche Rolle Kindergärten und Schulen tatsächlich bei der Ausbreitung des Virus spielen, da keine Zahlen vorhanden sind – und sie jetzt geschlossen sind“, so Kauermann. Um das herauszufinden, sagt der Statistiker, müsste man sie zumindest an manchen Orten offen lassen, damit man einen Vergleich hat.
„Wir müssen viel zielgerichteter vorgehen“
In diesem Zusammenhang kritisiert der Forscher auch die Tatsache, dass viele Maßnahmen bundesweit gelten, obwohl das basierend auf regional sehr unterschiedlichem Infektionsgeschehen gar keinen Sinn macht. „Wir müssten viel zielgerichteter vorgehen – gerade wenn wir sehen, dass in einem Bundesland wie Sachsen eine Übersterblichkeit herrscht – anstatt deutschlandweit in einen kompletten Lockdown zu gehen“, kritisiert Kauermann.
Letztendlich sieht der Statistiker dringenden Handlungsbedarf beim Sammeln und Aufbereiten von Daten. „Hätte das RKI beispielsweise die vorliegenden Daten besser visualisiert, hätte sich sofort gezeigt, dass die Infektionszahlen gerade bei den alten Menschen rasant nach oben geschossen sind.“ Dann hätte man auch viel zielgerichteter agieren können und nicht alles zusperren müssen. Gerade auch im Zusammenhang mit den neuen Mutationen sei es enorm wichtig, Daten bereit zu stellen und diese statistisch zu analysieren, um angemessene Maßnahmen zu ergreifen.