Massive Folgen des Lockdowns – Psychiater kritisiert Merkel-Kurs: „Wir müssen raus aus dem Durchhalte-Modus“
9. Februar 202116:33:49
Die Verlängerung des Lockdowns zeichnet sich ab. „Durchhalten“ wiederholen Politiker wie ein Mantra. Viel zu lange schon, sagt Psychiater Jan Kalbitzer. Denn das zermürbt. Er gibt Tipps für einen veränderten Alltag von Singles, Familien und Senioren.
Verschärft, verlängert, wieder verlängert: Das L-Wort macht sich schon zu Beginn dieses neuen Jahres auf den besten Weg, zum Unwort des Jahres 2021 gekürt zu werden. Wir müssen den Lockdown noch etwas durchhalten, schwört Angela Merkel alle ein.
Nein, wir müssen uns endlich vom Durchhaltestress befreien, kritisiert Psychiater und Psychotherapeut Jan Kalbitzer. Denn mindestens ein Viertel der Menschen in Deutschland leidet akut.
FOCUS Online: Herr Kalbitzer, Angela Merkel hat die Menschen in Deutschland in zwei Fernsehinterviews zum „Durchhalten“ aufgerufen. Wieder einmal. Viele sind allerdings ziemlich erschöpft. Wie sehen Sie als Psychiater die Situation?
Jan Kalbitzer: Es gibt Menschen, die momentan am Rande der Verzweiflung sind und gar nicht den Raum haben, gute Ratschläge umzusetzen. Das sind etwa diejenigen, die in prekären Verhältnissen leben, akut wirtschaftlich bedroht sind oder mit der Kinderbetreuung massiv überfordert.
Das Wichtigste, was wir in dieser Krise erkennen müssen, ist, dass Institutionen wie Kitas und Schulen enorme gesellschaftliche Relevanz haben. Denn unsere gemeinsamen Werte werden ebendort vermittelt. Diese Strukturen sind gleichzeitig absolut relevant als soziale Strukturen, um Kontakt zu halten zu Kindern in Familien in Not.
Überhaupt fehlt es an Angeboten, Menschen in psychischen Krisen kurzfristig und schnell zu helfen. Die psychiatrisch-therapeutische Versorgung dieser Menschen ist gerade nicht gewährleistet, weil das medizinische System sehr träge ist.
Zur Person
Jan Kalbitzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet die Stressmedizin der Oberberg Kliniken.
Das Dritte ist, dass wir mit Ansage in eine Krise geschlittert sind, für die wir im Sommer und im Herbst zu wenig Vorsorge getroffen haben. Das medizinische Personal auf Intensivstationen, das jeden Tag mehrere Tote rausschieben muss, wird zum Teil nicht nur eine Belastungsreaktion haben. Sie werden traumatisiert sein.
Da müssen wir jetzt schon anfangen, uns zu kümmern und vorzubereiten. All diese Betroffenen, die aktuell wirklich leiden und geschätzt ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, gilt es medizinisch, sozial und finanziell zu versorgen.
Wir haben in der Pandemie schon viel zu lang auf „Durchhalten“ gesetzt, meinen Sie?
Kalbitzer: Genau, denn es geht nicht darum, immer wieder die Luft anzuhalten und dann Augen zu und durch. Wichtig ist es, zu fragen: Wie kann ich mich grundsätzlich umstellen? Denn Krisen bieten grundsätzlich eine große Chance, weil sie Gewohnheiten unterbrechen. Als Gewohnheitstiere mögen wir Kontinuität. Deswegen ändern wir uns nur sehr schwer. Den Veränderungsstress unterscheide ich vom Durchhaltestress. Wer sich vom Durchhaltestress befreit, zermürbt langfristig nicht. Es lohnt sich zu schauen, wo kann ich mit möglichst geringem Aufwand, möglichst große positive Veränderungen erzielen, die gut zur aktuellen Situation passen.
Haben Sie ein Beispiel?
Kalbitzer: Wer sich etwa gesünder ernähren möchte, weniger Schokolade und mehr Gemüse essen möchte, könnte sich einen Wochenplan machen. Nicht jeden zweiten Tag ein bisschen etwas einzukaufen, senkt gleichzeitig das Infektionsrisiko.
Viele Menschen nehmen jetzt außerdem Veränderung im sozialen Bereich wahr und fragen sich: Wer ist mir wirklich eine Stütze und für wen möchte ich eine Stütze sein? Darum können wir die Krise dafür nutzen, umzustrukturieren und die Kontakte zu verfestigen, die weiter im Leben eine wichtige Rolle spielen sollen. Der regelmäßige soziale Austausch gibt uns jetzt unglaublich viel Halt.
Das heißt auch, wir sollten die Durchhalte-Parolen jetzt beenden?
Kalbitzer: Ja, wir müssen raus aus dem Durchhalte-Modus. Das Allerwichtigste ist zu sehen, nicht wovor wir Angst haben, sondern was wir eigentlich bewahren wollen. Wir wollen ja etwas erhalten, das über uns als Spezies hinausgeht, im positiven Sinne. Also, was ist das, das wir in dieser Krise bewahren und vielleicht sogar noch stärken wollen? Nämlich das Zwischenmenschliche, unsere Kultur miteinander und, was mir besonders wichtig ist, die Kunst.
Warum die Kunst?
Kalbitzer: Ich glaube, dass Menschen beim Praktizieren von Kunst merken, was an Bedeutung über das reine Leben hinausgeht. Dass man einer Idee nachgeht, um ihrer selbst Willen und nicht nur, weil sie einen Nutzen hat. Menschen werden wir dadurch, dass wir etwas tun, das über uns als einzelner Mensch hinausgeht. Das müssen wir uns als Gesellschaft bewusster machen.
Stattdessen erleben wir Durchhalte-Parolen, die Angst machen. Doch sie funktionieren einfach nicht, weil Leute abstumpfen oder dauerhaft ängstlich werden. Beides wollen wir nicht.
Können Durchhalte-Parolen nicht auch etwas Positives haben?
Kalbitzer: Ich finde sie dann gut, wenn sie Kraft geben. Etwa, wenn wir uns bewusst machen, dass wir durch unsere Disziplin wahnsinnig viel erreicht und so viele Tote verhindert haben.
Viel entscheidender finde ich zudem, dass wir schauen, wo Gemeinschaft in der Gesellschaft stattfindet. Wir müssen jetzt, statt durchzuhalten, Veränderungen der Agora (Anm. d. Red.: im antiken Griechenland der zentrale Versammlungs-, Fest- und Marktplatz) angehen.
Das heißt konkret?
Kalbitzer: Wir müssen jetzt an unserer digitalen Agora arbeiten. Sprich, jetzt in der Corona-Zeit sollten wir nicht in der Einsamkeit zu Hause durchhalten, sondern überlegen: Wie bauen wir den gemeinsamen Raum neu? Wie schaffen wir Begegnungsräume? Wie bleiben wir weiter zusammen, begegnen uns, debattieren miteinander? Wir müssen diese Plattform schaffen, die früher Innenstädte noch viel stärker waren als heute.
Damit sprechen Sie einen neu gestalteten Alltag an. Je nachdem, in welcher Lebenssituation jemand lebt, können die Bedürfnisse ganz verschieden aussehen. Wie etwa könnte eine Alltagsstrategie für Singles in der Lockdown-Zeit aussehen?
Kalbitzer: Für Singles ist es oft besonders wichtig, eine soziale Struktur mit festen „Banden“, also Kleingruppen, zu schaffen. Sie brauchen Kontakte, mit denen sie kontinuierlich in der Diskussion sind. Für die Menschwerdung ist das Allerwichtigste, dass wir lernen, dass unsere subjektive Sicht auf die Welt nicht die einzige ist. Das zu wissen, kann eine unglaubliche Befreiung von den Leiden der Welt sein. Deswegen brauchen wir Gemeinschaften, in denen wir mit der Präsenz anderer und mit deren Andersartigkeit konfrontiert werden.
Um das Infektionsrisiko nicht unnötig zu erhöhen, sollten sich Singles möglichst feste Gruppen suchen. In diesen Gruppen können sie sich persönlich treffen, in den Arm nehmen, zusammen kochen. Mit dieser kleinen Gruppe handeln sie immer wieder aufs Neue aus, wie sie mit der Krise umgehen wollen, weil jeder eine unterschiedliche Risikowahrnehmung hat. Dieses Aushandeln darüber ist ein ganz wichtiger Prozess. Gleichzeitig hilft dieser Prozess gegen das Gefühl, dass wir starren Regeln ausgeliefert sind.
Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins erleben gerade auch Familien, etwa, weil sie nicht wissen, wann Kitas und Schulen wieder regulär öffnen. Wie können sie ihren Alltag anpassen?
Kalbitzer: Ähnlich wie jetzt wird es wohl noch eine Weile weitergehen. Da ist es keine Lösung mehr, Kinder ewig vor den Fernseher zu setzen und ihnen Süßigkeiten zu geben oder als Eltern sich jeden Abend Alkohol zu gönnen. Das geht mal, darf aber kein Dauerzustand werden.
Statt sich auf das Beängstigende zu konzentrieren, sollte jede Familie überlegen: welche drei Dinge sind uns so wichtig, dass wir sie, wenn wir eines Tages auf diese Krise zurückblicken werden, werden bewahrt haben wollen.
Was könnte das sein?
Kalbitzer: Zum Beispiel, dass sie als Familie immer vernünftig miteinander reden und miteinander umgehen, sich regelmäßig bewegen und gesund ernähren wollen. Hat man drei zentrale Werte, ist es egal, ob jemand eine halbe Stunde mehr oder weniger Fernsehen schaut.
Wichtig sind außerdem positive Rituale. Ich empfehle Familien immer Tischgebete, auch wenn sie nicht gläubig sind. Etwa: „Wir bedanken uns, dass wir zusammen sind, dass es uns gut geht und dass wir so gutes Essen haben.“ So ein Ritual gibt Struktur und hilft Eltern wie Kindern, zur Ruhe zu kommen, das eigene Stresslevel zu überprüfen, kurz innezuhalten.
Kommen wir zu den Senioren. Wie könnte eine Alltagsstrategie für sie aussehen?
Kalbitzer: Es gibt gerade für ältere Menschen viele Möglichkeiten, sich zu engagieren auch ohne Infektionsrisiko. Beispielsweise können sie digital Kinderbetreuung machen, also die Großeltern können den Enkelkindern am Wochenende morgens per Videochat vorlesen. Dadurch entlasten sie die Eltern, die dann mal ausschlafen können.
Sie könnten auch offen über die Frage des Wohnraums nachdenken: Wenn ältere Menschen in einer riesigen Wohnung leben und wissen, im gleichen Haus gibt es eine Familie, die auf engstem Raum mit ihren Kindern zusammenlebt, könnten sie überlegen, ob man zumindest für die Corona-Zeit unkompliziert einen Wohnungstausch macht.
Ein wichtiger Aspekt für uns als Gesellschaft ist, dass wir Senioren nicht länger als ethische Verfügungsmasse sehen dürfen. Sie sollten ihre Autonomie behalten und selbst entscheiden, ob sie das Risiko eingehen möchten, ihre Enkelkinder zu sehen. Diese Entscheidung darf man Großeltern als autonome Wesen nicht abnehmen.
Weil Sie die Gesellschaft ansprechen. Wie geht man mit dieser um, die nun schon ein Jahr in der Pandemie lebt?
Kalbitzer: Von Christian Drosten abgesehen, der einen wirklich außerordentlich weiten Blick auch über sein Fachgebiet hinaus hat – etwa 2020, als die Pandemie sich in Deutschland auszubreiten begann, schon warnte, dass ein Frühjahrs-Lockdown dazu führen könnte, dass ein noch nötigerer Lockdown im Herbst und Winter schwerer durchzusetzen sei – ist die gesellschaftliche Diskussion zu stark auf Virologen ausgerichtet.
In welcher Hinsicht ist das problematisch?
Kalbitzer: Virologen – oder auch Physiker und andere Modellrechner – sind nicht unbedingt Experten dafür, wie man die Bevölkerung stärkt, so eine komplexe Krise lange möglichst gut durchzuhalten. Zu sagen, wir alle müssen jetzt körperlichen Kontakt so gut es geht vermeiden, funktioniert einfach nicht.
Experten sollten sich darauf besinnen, wo ihr Fachwissen endet und ihre Privatmeinung beginnt. Wir sollten Virologen nicht fragen: „Wie soll ich handeln“, sondern bitten: Beratet uns auf der Grundlage eurer Expertise, wie wir uns menschlichen Grundbedürfnisse nach Nähe, Begegnung und Miteinander möglichst gut aufrechterhalten können, ohne uns oder andere zu infizieren.
Was wäre Ihre Antwort darauf, was die Gesellschaft an diesem Punkt der Pandemie braucht?
Kalbitzer: Ein wichtiger Aspekt ist, dass man die einzelnen Menschen, die Bevölkerung aus ihrem Erleben der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins herausbringt. Die Gesellschaft sollten wir wieder mündiger werden lassen und Debatten, beispielsweise über Gerechtigkeit, offener mit allen Beteiligten führen.
Und wir müssen diese Erzählung loswerden: Jeder Mensch, der sich nach Kontakt sehnt und sich mit jemandem trifft, macht sich schuldig, weil er den Tod anderer in Kauf nimmt. Wir müssen uns vielmehr darauf konzentrieren, dass wir Menschen mit menschlichen Bedürfnissen sind – und wie wir diese befriedigen. Nicht jeder, der Rodeln fährt, wenn es schneit, ist ein amoralischer Egoist, sondern ist wahrscheinlich erst einmal ein Mensch, der allein oder mit seiner Familie etwas für sein Wohlbefinden und seine Gesundheit tun, etwas unternehmen will. Wir sollten weniger Zeit damit verbringen, zu verurteilen und zu bestrafen. Sondern vielmehr Wege finden und Strukturen schaffen, die möglichst vielen Menschen helfen, auch psychisch so gesund es geht durch diese Krise zu kommen.