Streeck: „Shutdown ist wie ein Medikament – wir müssen auch auf die Nebenwirkungen schauen“

10. Februar 2021 Aus Von mvp-web

17:56:55
In der Lockdown-Debatte wird nicht genug diskutiert, sagt Hendrik Streeck – zumindest nicht mit den richtigen Menschen. Im Gespräch mit FOCUS Online erklärt der Virologe, wieso es an relevanten Stimmen fehlt und wieso wir uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, langfristig mit Corona zu leben.

Am Mittwoch werden Bund und Länder den geltenden Lockdown verlängern. Die Aussagen der vergangenen Woche lassen kaum einen anderen Schluss zu.

Virologe Hendrik Streeck sieht den inzwischen mehr als drei Monate andauernden Lockdown allerdings skeptisch. „Natürlich ist es wichtig, die Infektionszahlen zu drücken“, sagt er kurz vor dem entscheidenden Bund-Länder-Gipfel im Gespräch mit FOCUS Online.

„Aber es fehlt die Perspektive und der Ausblick für eine Langzeitstrategie. Auch haben wir in Deutschland zu wenig geforscht. Wir wissen nicht, wer sich wo ansteckt. Daher bleibt uns derzeit keine andere Methode als mit dem Hammer zu arbeiten.“

Um das zu verhindern, spricht sich Streeck für ein differenzierteres Vorgehen aus: „Wir müssen verstehen, wer sich wo infiziert, damit wir endlich anfangen können, auch mit dem Skalpell arbeiten können“, so seine Forderung.

Keine Kinderärzte, keine Psychologen – in Shutdown-Debatte fehlt kommunikative Diskussion

Ein weiteres Problem bei den gegenwärtigen Lockdown-Maßnahmen aus Streecks Sicht: Sie sind in erster Linie nicht wissenschaftlich begründet, sie sind politische Entscheidungen. Und es werde nicht ausreichend über sie diskutiert. „Eine demokratische Gesellschaft kann nur in einer Diskussion einen Weg nach vorne finden“, führt der Mediziner aus. „Und diese so wichtige kommunikative Diskussion findet meiner Meinung nach im Augenblick nicht, oder zu wenig, statt.“

Streeck wünscht sich mehr Meinungen, mehr Debatten. Mehr kritische Stimmen, wie er sagt – nicht nur von Virologen. Denn betrachte man das eigentliche Themenfeld der Virologie, falle Folgendes auf: Die meisten Fragen, die in den Gremien und Beratungen der Regierung gestellt werden, können Virologen nur bedingt oder gar nicht beantworten.

Streeck kritisiert: „Wo sind die Psychologen und Soziologen? Wo sind die Kinderärzte, die fundiert etwas über Kinder sagen können? Ganz viel liegt doch gar nicht in einem virologischen Themenbereich. Und auch nicht im Themenbereich der Physiker. Im Beraterteam von Kanzlerin Merkel sollten Experten gehört werden, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen.“

Ein Lockdown ist laut Streeck wie eine Art Medikament in der Pandemie. „Er hat eine Wirkung, die sehen wir jetzt. Aber er hat auch Nebenwirkungen. Und auch die müssen wir beachten. All die Kollateralschäden, all die Dinge, die um diesen Lockdown herum passieren. Die wirtschaftlichen, sozialen und auch psychischen Folgen müssen wir berücksichtigen.“

Virologe Streeck: Zahlen auf Null zu drücken ist „unmöglich“

Dass wir Sars-CoV-2 nicht ausrotten werden und lernen müssen, damit zu leben, steht für den Virologen schon seit Beginn der Pandemie fest. Mit der „Dauerwelle“ beschreibt Streeck das, was alle Coronaviren tun: Sie sorgen im Herbst für einen rapiden Anstieg der Infektionszahlen, im Frühsommer dann wieder für ein Abflachen des Infektionsgeschehens. Und das Jahr für Jahr.

Von der Idee, das Virus mithilfe strenger Maßnahmen bis zu einem Wert von Null zu drücken, hält er deshalb wenig. Im Zuge der Lockdown-Diskussionen haben sich unter Wissenschaftlern zwei Gruppen herausgebildet, „Zero-Covid“ und „No-Covid“. Beide verfolgen mit unterschiedlichen Strategien das Ziel, die Infektionszahlen nahe oder bis auf Null zu drücken – für Streeck ist das „illusorisch“.

„Es gibt Länder, die scheinen auf dem richtigen Weg dahin zu sein“, schränkt er ein. „Allerdings sind wir mitten in der Pandemie und können und sollten uns auch erst in ein paar Jahren mit anderen Ländern vergleichen. Im Sommer war Japan das Vorbild. Im Herbst Irland, beide Länder hatten seit dem hohe Infektionszahlen.“

Als weiteres Beispiel nennt der Virologe Australien. Dort wurde über die Wintermonate ein extrem harter Lockdown verhängt. „Über 112 Tage durften die Menschen lediglich für Sport, Besorgungen und zwingende Versorgungen nach draußen.“ Seit Anfang des Jahres meldet Australien täglich weniger als 25 Neuinfektionen, aber sie sind derzeit im Sommer.

Streeck fordert: Deutschland braucht Stufenpläne

Das auch in Deutschland zu schaffen, ist laut Streeck jedoch unmöglich. „Im Sommer waren auch unsere Zahlen niedrig, da hatten wir nur noch eine Inzidenz von rund 3 Fällen auf 100.000 Einwohner – und trotzdem haben wir das Virus nicht gänzlich kontrolliert.“

Dafür müssten die Maßnahmen weit über den gegenwärtigen Lockdown hinausgehen, erklärt der Virologe. „Die Idee ist richtig und diskussionswürdig, aber am Ende müssten wir Grenzen schließen, wenn nicht alle europäischen Länder mitspielen. Auch bräuchten wir innerdeutsche Kontrollen, wir müssten ein so engmaschiges Surveillance-System haben, dass uns keine Fälle mehr durchschlüpfen. Das ist in meinen Augen einfach nicht machbar.“

Deshalb wünscht sich Streeck eine realistischere Perspektive: einen Plan, in dem klar festgelegt ist, wann wir wo lockern können. „Wir brauchen Stufenpläne ähnlicher derer aus Schleswig-Holstein oder Niedersachsen mit einer klaren Basis und Orientierung an festen Richtwerten. Für die Zeit bis zum Frühjahr, wenn die Zahlen wieder sinken. Und für die Zeit nach dem Sommer, wenn die Zahlen erneut ansteigen sollten.“