B.1.1.7 breitet sich aus: 70 Prozent ansteckender und bald dominant? Die Corona-Mutationen im Zahlen-Check
17. Februar 202119:22:20
Gesundheitsminister Jens Spahn erklärte am Mittwoch, die mutierte Corona-Variante B.1.1.7 werde in Deutschland bald die dominierende sein. FOCUS Online zeigt auf, wie Experten die Verbreitung der Mutationen einschätzen und wie es um das Ansteckungsrisiko der Virus-Varianten steht.
Mutationen, Mutationen, Mutationen. Die Angst vor den Varianten von Sars-CoV-2 gilt als das Argument, mit dem sich im Zuge der aktuellen Corona-Politik beinahe alles begründen lässt.
Restaurants, Hotels, Geschäfte – sie alle müssen sich vorerst gedulden, zu groß ist die Sorge, dass die Mutationen bei Öffnungen zu einem erneuten Infektionsanstieg in Deutschland führen könnten.
Doch wie ansteckend sind die Mutationen denn nun wirklich? Sind sie wirklich gefährlicher? Und wie viele der Fälle in Deutschland gehen überhaupt darauf zurück? FOCUS Online macht den Check.
Welche Mutationen gibt es in Deutschland?
- B.1.1.7 – „Britische Variante“:
Sie wurde im Dezember 2020 erstmals in Großbritannien nachgewiesen. Am 24.12.2020 berichtete das Land Baden-Württemberg erstmals über einen Nachweis der Linie B.1.1.7, inzwischen sind Fälle in mehreren Bundesländern und große Ausbrüche mit der Variante bekannt. - B.1.351 – „Südafrika-Variante“:
Über diese Virusvariante aus Südafrika wurde ebenfalls erstmals im Dezember 2020 berichtet. Am 12.1.2021 berichtete Baden-Württemberg erstmals über einen Nachweis der Linie B.1.351, auch hier sind inzwischen Fälle und Ausbrüche in mehreren Bundesländern bekannt. - B.1.1.28 / P.1 – „Brasilien-Variante“:
Sie zirkulierte zunächst im Amazonasgebiet und ähnelt laut RKI der südafrikanischen Variante. 22.1.2021 berichtete das Land Hessen erstmals über einen Nachweis der Variante der Linie P.1. Weitere Fälle und Ausbrüche werden laut RKI erwartet.
Zudem soll es Hinweise auf eine als „norwegisch“ oder auch „luxemburgisch“ bezeichnete Variante des Coronavirus geben. Diese Mutation B1.1.6 soll ist in Halle bei einer Klinikmitarbeiterin nachgewiesen worden sein, wird vom RKI allerdings bislang nicht unter den in Deutschland auftretenden Mutationen geführt.
Wie hoch ist der Anteil der Mutationen?
Während das RKI in seinem aktuellen „Bericht zu Virusvarianten von SARSCoV-2 in Deutschland“ vom 10. Februar zwar noch einen Anteil von 5,6 Prozent angibt, der auf die Variante B.1.1.7 zurückgeht, ist dieser Wert laut Gesundheitsminister Jens Spahn bereits überholt.
Am Mittwoch sagte er in Berlin, der Anteil an den untersuchten positiven Proben sei binnen zwei Wochen von knapp 6 Prozent auf mehr als 22 Prozent gestiegen. Virologe Martin Stürmer von der Universität Frankfurt erklärte gegenüber FOCUS Online bereits in der vorigen Woche, er könne in seinem Labor für interdisziplinäre Medizin und Diagnostik „rund 30 Prozent der Infektionen auf die britische Variante zurückführen.“
Der Anteil der britischen Variante verdoppelt sich laut Spahn jede Woche, wir müssten „damit rechnen, dass die Variante bald auch bei uns die dominierende werden könnte“.
„Über kurz oder lang wird B.1.1.7 dominieren“, bestätigt auch System-Immunologen Michael Meyer-Hermann Spahns Aussage. Die Übertragungsgeschwindigkeit „befindet sich in Deutschland bereits wieder in einer Phase des exponentiellen Wachstums“, sagte er dem „Tagesspiegel“. Würden die Fallzahlen nicht auf eine geringe Inzidenz gedrückt, drohe eine dritte Welle.
Die zunächst in Südafrika aufgetretene Mutation B.1.351 habe in Deutschland einen Anteil von 1,5 Prozent, teilte Spahn ferner mit. Das RKI habe 23.000 positive Testergebnisse in einer repräsentativen Stichprobe und weitere Daten ausgewertet. Bei den Analysen werden demnach nicht alle Corona-Tests auf Varianten untersucht.
Experten hatten auf regionale Unterschiede und mögliche Lücken hingewiesen. Virologe Alexander Kekulé erklärte etwa im MDR-Podcast, man habe in Deutschland „sehr spät angefangen, Varianten systematisch zu suchen.“ Klar ist demnach auch: Je mehr Proben untersucht werden, umso mehr Mutationen lassen sich finden. „Ich vermute, die Dunkelziffer ist etwa fünf mal so hoch“, so der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle.
Wie ansteckend sind die Mutationen?
B.1.1.7 gilt als ansteckender als die bisherige Sars-CoV-2-Variante. Die britische Virusvariante ist nach Schätzungen um mindestens 35 Prozent ansteckender als die herkömmliche. Sie gilt als „Variant of Concern“ (VOC), vor Weihnachten schätzten britische Forscher ein um 50 bis 70 Prozent erhöhtes Risiko. Neuere Studien gehen von 43 bis 82 Prozent aus, während die britische Gesundheitsbehörde nur eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit von 25 bis 40 Prozent angibt.
Dass B.1.1.7 ansteckender ist, darin sind sich die Wissenschaftler also einig. Um wie viel – das ist noch nicht eindeutig geklärt. Immerhin: Hinweise auf eine verringerte Wirksamkeit der Impfstoffe bei der Variante B1.1.7 gibt es laut RKI bislang nicht.
Auch bei B.1.351 geht das RKI von einer höheren Übertragbarkeit aus. Führende Experten aus Südafrika vermuten etwa ein um 50 Prozent erhöhtes Ansteckungsrisiko, welches sich in einer mathematischen Modellrechnung ergeben habe. Zudem gehen erste Studien davon aus, dass der Schutz durch neutralisierende Antikörper gegenüber dieser Variante reduziert sein könnte. Personen, die an einer ursprünglichen Variante erkrankt waren oder einen auf diesem beruhenden Impfstoff erhalten haben, könnten also erneut erkranken.
Dass auch P.1 besser übertragbar ist, wird vom RKI „als denkbar erachtet“. Nach Auskunft des brasilianischen Gesundheitsministers Eduardo Pazuello soll die Mutante bis zu dreimal ansteckender sein. Auch eine mögliche Reduktion der Wirksamkeit neutralisierender Antikörper bei Genesenen und Geimpften bei dieser Variante steht laut RKI im Raum.
Wie tödlich sind die Mutationen?
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson erklärte bereits im Januar, es gebe „einige Hinweise“, dass die Mutation B.1.1.7 tödlicher sei als das Ursprungsvirus. Seitdem untersuchten Forscher die Fallsterblichkeit in verschiedenen Studien. Zuletzt veröffentlichte am Donnerstag das britische Experten-Gremium Nervtag (New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group) eine Übersichtsstudie im Preprint. Dazu werteten die Wissenschaftler 21 unterschiedliche Studien aus.
Ihr Fazit: „Basierend auf dieser aktuellen Analyse ist es wahrscheinlich, dass die Infektion mit VOC B.1.1.7 mit einem erhöhten Risiko für Hospitalisierung und Tod assoziiert ist – dies im Vergleich zu Infektionen mit Nicht-VOC-Varianten.“ Konkret ermittelten sie in zwei Dritteln der Studien ein erhöhtes Risiko, in einem Drittel hingegen nicht. Insgesamt ergab die Datenlage ein erhöhtes Todesrisiko zwischen 30 und 70 Prozent. Die Forscher betonen jedoch, dass das absolute Risiko, an einer Sars-Cov-2-Infektion zu sterben, auch bei der britischen Variante noch sehr gering sei.
Auch das RKI erklärt in seiner Bewertung der Datenlage zu B.1.1.7: „Während anfangs nicht davon ausgegangen wurde, dass diese Variante mit schwereren Krankheitsverläufen einhergeht, gibt es inzwischen – bei begrenzter Datenlage – erste Hinweise darauf, dass sie mit einer erhöhten Fallsterblichkeit einhergehen könnte.“ Für die weiteren Virusmutationen gibt es bislang keine offiziellen Daten, welche ein erhöhtes Risiko bestätigen.
Ist die Lockdown-Verlängerung aufgrund der Mutationen gerechtfertigt?
Spahn machte am Mittwoch deutlich, dass die Infektionszahlen trotz der Mutationen insgesamt zunächst weiter gesunken seien. Das zeige, dass die Schutzmaßnahmen wirkten. System-Immunologe Michael Meyer-Herrmann erklärte hingegen, „die aktuellen Maßnahmen reichen nicht, um diese Entwicklung auszubremsen.“
Auch wenn es vorerst wohl keine weiteren Maßnahmen geben wird, gilt gleiches für die Lockerungen. Abgesehen von Friseuren und Schulen müssten die Wege aus dem Lockdown „mit ganz besonderer Vorsicht“ gegangen werden, betonte Jens Spahn. Die Erwartungen auf rasche Öffnungen anhand eines festen Plans dämpfte er damit.
Die Gefahr der dritten Welle, auf die unter anderem System-Immunologe Meyer-Hermann hinweisen, sieht Virologe Alexander Kekulé hingegen nicht. „Wir haben es mit einer Pandemie zu tun, aber das ist keine dritte Welle, keine Pandemie in der Pandemie“, erklärt er im MDR-Podcast.
Zwar könnten bei Lockerungen die Fallzahlen wieder ansteigen, damit auch der Anteil an Mutationen dominant werden und womöglich bereits im März mehr als die Hälfte der Fälle ausmachen. „Aber das heißt nicht, dass man den Lockdown verlängern muss“. Sein Fazit: „Mutationen begründen keinen Dauer-Lockdown“.